Der Kuss Im Kristall
glaube, es ist Schottland.“
Schottland. Ihr Herz schlug schneller bei diesem Wort. „Was tue ich da?“
Er drehte noch drei Karten um. „Meistens liegen Sie nackt im Bett. Dann – eine Gouvernante? Ein Kindermädchen? Ich erkenne viele Kinder.“
Sie unterdrückte ein Lächeln. Noch hatte sie Angst, sie könnte sich irren. „Wie viele?“
Er drehte noch drei Karten um und dann drei weitere. Dann schaute er sie an. Seine Augen wirkten nicht länger kühl, sondern blitzten vor Heiterkeit. „Vielleicht ein Dutzend?“
Sie trat zum Tisch und breitete die Karten aus. Dabei tat sie so, als würde sie dasselbe daraus lesen wie er. „Ah, ich eröffne also eine Schule für widerspenstige kleine Schotten?“
„Die widerspenstigsten Schotten überhaupt. McHughs, allesamt.“
„Bin ich dieser Aufgabe gewachsen, Mylord?“
„Das müssen Sie. Ohne Sie würde es keine kleinen McHughs geben. Und keine Zukunft für mich.“
Sie kam näher, schmiegte sich in seine Arme. „Wenigstens könnten Sie es ein Mal aussprechen, Mylord.“
„Verdammt, Alethea, ich habe eine romantische Ansprache eingeübt. Aber du verwirrst meine Sinne. Ich sehne mich nach dir. Ohne dich kann ich nicht atmen. Ich habe keine Zukunft ohne dich. Ich – ich liebe dich. Heiratest du mich?“
Sie legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu blicken, die jetzt dunkel waren von Leidenschaft. Endlich begriff sie, was sie gesehen hatte in jener Nacht, als die Welt um sie herum verschwand und sie zwischen Sonne, Mond und Sternen umhergeflogen war. Sie hatte die Ewigkeit gesehen. Damals hatte sie sich davor gefürchtet, hatte gezittert angesichts der Intensität des Eindrucks, aber jetzt hieß sie das Gefühl willkommen. Sie lächelte. „Wenn es so in den Karten steht, wie soll ich mich dann gegen das Schicksal wehren?“
Er bog das Deck zusammen, um es dann plötzlich loszulassen, sodass die Karten in die Luft sprangen. Während die einzelnen Karten um sie herum zu Boden sanken, zog er sie an sich und küsste sie.
EPILOG
5. Januar 1819
Sonnenschein fiel durch die kahlen Bäume und tauchte die Landschaft in ein warmes Licht, als der Pastor die Worte für die Trauerzeremonie aus dem „Book of Common Prayers“ las. Alethea spürte Tante Henriettas Gegenwart und musste lächeln. Dianthe und Bennett standen neben ihr und hielten ihr die Hände. Die Damen der Mittwochsliga – Lady Annica, Charity, Lady Sarah und Tante Grace – befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite an dem frisch ausgehobenen Grab und sprachen gemeinsam mit dem Geistlichen die Gebete. Unmengen weißer Rosen bedeckten den schmalen Sarg, der in das Grab hinabgelassen worden war.
Endlich würde Tante Henrietta in Frieden ruhen, betrauert von jenen, die sie geliebt hatten. Alethea seufzte tief, und das Gefühl, dass etwas abgeschlossen war, vertrieb den Rest ihres Zorns und ihrer Angst. Nur die Liebe blieb, denn sie überlebte alles.
„Amen“, sagte der Geistliche, beendete das letzte Gebet und befahl Henrietta Lovejoy in die Hände ihres Schöpfers.
„Danke“, flüsterte Alethea der Frau zu, die für sie mehr als eine Mutter gewesen war.
Sie machten sich auf den Weg, den Friedhof zu verlassen, und sie erspähte Rob McHugh, der an dem steinernen Torbogen am Eingang auf sie wartete. Sie entschuldigte sich bei den anderen und lief zu ihm.
„Warum hast du uns nicht begleitet?“, fragte sie, nahm seinen Arm und folgte der Gruppe.
„Ich war nicht sicher, ob ich willkommen sein würde. Ich habe mich nicht immer freundlich über deine Tante geäußert.“ Er legte eine warme Hand auf ihren Arm. „Geht es dir gut?“
Sie sah ihn an und lächelte.„Ich bin nur neugierig. Wo hast du im Januar so viele Rosen herbekommen?“
Er lächelte. „Woher weißt du, dass ich es war?“ Beim Anblick ihrer ernsten Miene gab er auf. „Ich habe ein paar Freunde, die im Besitz von Gewächshäusern sind.“
„Es war eine wunderschöne Geste. Tante Henrietta hätte sie geliebt.“
„Ich hoffe, du verübelst mir auch die nächste Geste nicht.“
Sie runzelte die Stirn. „Was hast du getan?“
„Ich habe dem Leiter von Eton geschrieben und Bennetts Austritt rückgängig gemacht. Bis zum Ende des Schuljahres ist sein Schulgeld bezahlt.“
Jetzt war sie verärgert. „McHugh, an deiner Seite trete ich mit Vergnügen jedem Skandal entgegen, aber meine Geschwister sind weniger unempfindlich. Wenn das Gerede einsetzt, werden sie sehr darunter zu leiden haben. Bennett würde es
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