Der Kuss
hin und her. Es gab bald kein Pärchen, das nicht knutschte. Michael überlegte tatsächlich aus der Halle zu laufen, so unangenehm drängend schob sich zu viel Gefühl in ihm hoch, ertränkte ihn regelrecht darin. Er schluckte und schluckte, ballte die Fäuste, sah verschwommen, wie Lukas ein Feuerzeug in die Luft reckte und ein Licht unter vielen entzündete.
Wieder berührten sich ihre Ellenbogen zufällig. Michael rückte rasch ab, aber Lukas' Arm streifte ihn nochmal. Auch wenn Michael diese Berührungen mochte, sie ihm durch und durch gingen, zog er sich weiter zurück, nur um erneut Lukas' Arm zu spüren. Erst da begriff er, dass das kein Zufall war – Lukas tastete nach seiner Hand. Warme Finger streichelten seine Faust, um sie sanft zu öffnen. Michael fühlte, wie ein Blitz einschlug, als sich Lukas' Finger zärtlich zwischen seine schoben. Er konnte es gar nicht fassen, hielt den Arm steif, die Finger gestreckt, als hätte er an ihrer Stelle dürre Äste. Als müsste er sich vergewissern, dass seine Wahrnehmung stimmte, blickte er zwischen sich und Lukas, sah, wie dessen Knöchel um den entschlossenen Griff fast weiß wurden. Zögernd öffnete sich Michael und schlang seine Finger um Lukas sichere Hand. Der drückte kurz zu und lächelte.
Michael bestand nur noch aus dieser elektrisierenden Berührung mit seinem Freund. Zudem schmiegte sich dessen Schulter an ihn, und ein bisschen, kaum merklich, schunkelten sie. Die Reibung, die so an ihren Armen entstand, intensivierte die Nähe um ein vielfaches. Michael wagte kaum zu atmen, hatte Angst, eine falsche Bewegung – und alles wäre vorbei.
'Nein!'
, hätte Michael am liebsten geschrien als das Lied zu Ende ging,
'spielt es nochmal!'
Mit der nächsten Nummer heizte die Band der Menge wieder ordentlich ein. Lukas' Finger wanden sich aus Michaels festem Griff – doch er wollte einfach nicht loslassen, öffnete nur widerwillig seine Hand. Wie kalt und hart sich Lukas auf einmal anfühlte, als er sich so grob der Verbindung entriss.
Zwei weitere Songs zwang sich Michael in der Halle zu bleiben, und seinen Fluchtreflex niederzukämpfen. Dann hielt er es nicht mehr aus und drängelte sich zwischen den schwitzenden, springenden Leibern hindurch raus, einfach nur raus. Er rang nach Luft, würgte fast, so sehr tat ihm die Brust weh, zogen sich Herz und Magen zusammen. Endlich gab er der Angst nach, dem Wunsch, einfach nur wegzulaufen. Er ignorierte die vielen coolen Leute mit ihren aufregenden Tattoos und den wilden Frisuren, die lässig herumstanden und rauchten, zog die Kapuze über den Kopf, vergrub die Fäuste in den Taschen und marschierte mit raschen Schritten heimwärts.
Was hatte das eben zu bedeuten? Michael führte die Handfläche – jene, die Lukas berührt hatte – an seine Nase, den Mund, roch daran, drückte sein Gesicht hinein, als wäre er Lukas damit näher.
'Idiot'
, schimpfte er sich sofort, und stopfte die Faust zurück in die Hosentasche.
Als er vor dem Wohnhaus ankam, bremste er ab. Er wollte noch nicht rauf. Es war ein so aufregender Abend gewesen, er hatte sich so erwachsen gefühlt unter all diesen Leuten – er wollte dieses Gefühl nicht von seinem Kinderzimmer oder seiner Mutter klein machen lassen. Plötzlich kam ihm seine Flucht dumm vor und er sehnte sich danach, noch auf dem Konzert zu sein. Vermutlich spielte die Band immer noch. Jetzt, da Michael fern davon war, schien es nichts Verlockenderes zu geben als Lukas beim Tanzen zuzusehen. Sämtliche Verheißungen dieser Welt schienen dort zu sein, von wo er eben geflüchtet war.
Für einen bewegenden Moment überlegte er tatsächlich umzukehren, er hatte ja noch den Stempel auf seinem Handrücken, vermutlich könnte er sofort wieder hinein, wie die Raucher. Lukas hatte vielleicht noch nicht einmal bemerkt, dass er weggelaufen war.
Doch stattdessen schlurfte Michael zur Schaukel, die auf dem heruntergekommenen Spielplatz vor dem Wohnhaus stand, hockte sich mit hängenden Schultern darauf und ließ die Nacht auf sich wirken. Vielleicht sollte er nie wieder heimkehren. Wie einfach wäre es, jetzt einfach abzuhauen und irgendwo sein Leben neu zu beginnen? Eine ganze Weile hing Michael seinen Fantasien von einem verwegenen, wilden Leben nach, ohne Schule, aber mit einer Menge Abenteuer, ohne Mutter, aber mit … mit …
'Scheiße'
, fluchte Michael, und scharrte mit den Schuhspitzen im Kies.
Plötzlich hörte er Schritte. Panik befiel ihn, ob ein brutaler Krimineller ihn
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