Der Kuss
Ausgang an, bremste sich aber wieder ab. Nein, er hatte es bis hierher geschafft – er hatte sich seit Wochen auf das Konzert gefreut – jetzt würde er es genießen! Basta!
Eine der beiden Vorbands jaulte und trommelte sich die Seele aus den Leibern. Sie war schlecht, und musste sich mit Buhrufen begnügen. Trotzdem füllte sich langsam die Halle, und Michael suchte sich einen Platz. Nicht zu weit vorn – da wurde zu heftig getobt – nicht zu weit hinten – da waren zu viele knutschende Pärchen oder ernste Typen, die da standen wie Schränke, charakterlos und starr – das konnte einem die Laune echt verderben. Am Rand, irgendwo an eine Wand gedrückt, hätte es ihm zwar am besten gefallen, aber dort war schon alles besetzt.
Endlich stürmte die charismatische Hauptband die Bühne, und brachte die Leute binnen Minuten zum Brodeln. Michael ließ sich von der aufpeitschenden Stimmung anstecken. Ihm entkam ein Lächeln, er grölte sogar, hob die Arme, sprang im Takt. Immer mehr vereinnahmte ihn das Gefühl, Teil der Menge zu sein, nicht irgendjemand, sondern ein Fan, wie alle hier. Als wüchse er in eine Familie hinein, gehörte er – zumindest für einen Abend – zu all den aufregenden, interessanten Menschen.
Und dann, als Michael endlich begann sich richtig wohl zu fühlen, den Abend zu genießen und sich vornahm, ab nun öfter alleine fortzugehen – ja, vielleicht sogar nur noch alleine, denn dann konnte er sich viel besser auf die Stimmung einlassen – berührte ihn jemand ganz leicht am Ellenbogen. Okay, in der Masse rempelte ihn dauernd irgendjemand an, aber diese Berührung riss ihn völlig aus der brodelnden Euphorie, ließ ihn klar in die Realität plumpsen. Wie ein einzelner Tropfen, der unabsichtlich über den Rand eines Topfes fällt, damit für immer von den anderen getrennt wird, entfernte er sich von der Menge. Die Musik erschien ihm leiser, verkam mit den Stimmen der Leute zu einem diffusen Rauschen. Lukas.
Er stand neben ihm, lächelte ihn an als wäre nie irgendetwas passiert, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass Michael ihn bemerkte, ging er mit dem euphorischen Publikum mit. Nun, an Michaels statt, stürzte er sich ins brodelnde Fieber der Menge, ließ seinen schüchternen Freund hinter sich – den einsamen Tropfen, vergessen auf dem Boden der Ernüchterung. So sehr sich Michael auch bemühte, es wollte ihm nicht mehr gelingen in Stimmung zu kommen. Seine Versuche zu grölen waren ihm peinlich, er hörte die eigene Stimme naiv in seinem Kopf. Er sprang mit, aber ohne zu wissen warum, ließ es bald bleiben und senkte auch die Arme – wie albern, damit in der Luft herumzufuchteln.
Er betrachtete Lukas, dessen braune lange Haare durch die Luft wirbelten wenn er sprang, die gut geformten Schultern, wie immer betont durch ein Muskelshirt. Als Lukas seine muskulösen Arme in die Luft streckte um zu klatschen, verfing sich Michaels Blick in dessen Achselhaar. Auf einmal wirkte Lukas auf ihn betörend männlich, ja, auf eine durch und durch erotische Art. Michaels Herz schlug schwer, hämmerte schmerzhaft gegen das Brustbein, in seine Leisten zischte ein erregtes Kitzeln und machte die Hose eng.
Dass Lukas ihn aufgrund seiner Männlichkeit reizte beunruhigte ihn nicht – in den letzten Wochen hatte er über dieses Thema erschöpfend nachgedacht. Auch wenn er sich noch nicht ganz sicher war, ob er denn wirklich Männer lieber mochte als Frauen, die Idee machte ihm zumindest keine Angst mehr. Viel schlimmer war,
unglücklich
verliebt zu sein, und wie sich das anfühlte, davon hatte er eine Ahnung bekommen.
Die Band spielte eine Ballade, Michaels absolutes Lieblingslied – vor allem in den letzten zwei Wochen. Das war einer der wenigen ruhigen Songs dieser Gruppe, und ergreifend bis zum erbarmungslosen Kitsch. Genau das Richtige für unglücklich – aber auch glücklich verliebte Teenager. Selbst ohne akuten Herzschmerz konnte man dazu eine Träne vergießen, wenn man sich auf die Melodie einließ. Sie beschrieb dieses Gefühl im Bauch so perfekt, dass Michael bereits eine Ahnung davon bekommen hatte wie Verliebtheit sich anfühlte, ehe sie ihm das erste Mal passiert war.
Die Band tat ihm keinen Gefallen damit, ausgerechnet jetzt dieses Lied zu spielen. Er hatte zwar den ganzen Abend darauf gewartet, aber nun wollte er es nicht mehr. Weil Lukas da war. Weil dieser solche Gefühle in ihm auslöste. Sofort zückten Hunderte Leute ihre Feuerzeuge und schwenkten sie in sanften Wogen
Weitere Kostenlose Bücher