Der Landarzt (German Edition)
je weniger er ihrer besitzt, desto mehr liebt er sie zweifelsohne. Vielleicht verhält es sich mit dem Bauern wie mit dem Gefangenen ... er verzettelt die Kräfte seiner Seele nicht, er konzentriert sie auf einen einzigen Gedanken und gelangt dann zu einer starken Gefühlsenergie. Verzeihen Sie einem Manne, der selten seine Gedanken austauscht, diese Ueberlegungen. Glauben Sie übrigens nicht, mein Herr, daß ich mich viel mit eitlen Gedanken beschäftigt habe. Hier muß alles Praxis und Tat sein. Ach, je weniger Ideen die armen Leute hier haben, desto schwieriger ist's, sie ihren wirklichen Nutzen einsehen zu lehren. Auch hab' ich auf alle Kleinigkeiten meines Unternehmens verzichtet. Jeder von ihnen sagte mir das nämliche, machte einen jener Einwände voll gesunden Menschenverstands, die keine Antwort zulassen: ›Ach, Herr, Ihre Häuser sind ja noch nicht gebaut!‹ – ›Nun gut,‹ antwortete ich ihnen, ›versprecht mir, sie bewohnen zu wollen, sobald sie fertig sind!‹ Glücklicherweise, mein Herr, erlangte ich die Entscheidung, daß unser Flecken Eigentümer des ganzen Berges ist, an dessen Fuß das jetzt verlassene Dorf liegt. Der Wert der auf den Höhen stehenden Waldungen konnte genügen, um den Preis der Ländereien und der versprochenen und noch zu bauenden Häuser zu bezahlen. Als eine einzige meiner störrischen Haushaltungen dort untergebracht worden war, zögerten die anderen nicht, ihr zu folgen. Der Wohlstand, der sich aus diesem Wechsel ergab, sprang zu sehr ins Auge, um nicht von denen anerkannt zu werden, die am abergläubischsten an ihrem Dorfe ohne Sonne, was ebensoviel heißt wie ohne Seele, festhielten. Der Abschluß dieser Angelegenheit, die Eroberung der Gemeindegüter, deren Besitz uns durch den Staatsrat bestätigt wurde, ließen mich eine große Wichtigkeit im Bezirk erlangen. Wie viele Sorgen brachte das aber, mein Herr!« sagte der Arzt, indem er stehenblieb und eine Hand erhob, die er mit einer Bewegung voller Beredsamkeit wieder sinken ließ. »Ich allein kenne die Entfernung des Fleckens von der Präfektur, von wo nichts ausgeht, und von der Präfektur zum Staatsrat, wo nichts einläuft . . . Endlich,« fuhr er fort, »Frieden allen Mächten der Erde, sie haben meinen eindringlichen Gesuchen nachgegeben, und das ist sehr viel! Wenn Sie wüßten, wieviel Gutes durch eine sorglos gegebene Unterschrift hervorgerufen wird! . . . Zwei Jahre, nachdem ich so große kleine Dinge versucht und sie zu Ende gebracht hatte, mein Herr, besaßen alle armen Haushaltungen meiner Gemeinde mindestens zwei Kühe und schickten sie ins Gebirge auf die Weide, wo ich, ohne die Genehmigung des Staatsrats abzuwarten, ein Bewässerungssystem, ähnlich dem der Schweiz, der Auvergne und des Limousin, angelegt hatte. Zu ihrer großen Ueberraschung sahen die Leute des Fleckens dort ausgezeichnete Wiesen entstehen, und sie erhielten eine viel größere Menge Milch durch die größere Güte der Weideplätze. Die Ergebnisse dieser Eroberung waren unglaublich groß. Jeder ahmte meine Bewässerung nach. Die Wiesen, die Tiere, alle Erzeugnisse vervielfachten sich. Seit der Zeit konnte ich furchtlos die Verbesserung dieses noch unangebauten Erdenwinkels unternehmen und seine bis dato noch der Intelligenz entbehrenden Bewohner zivilisieren. Kurz, mein Herr, wir Einsiedler sind sehr geschwätzig: wenn man eine Frage an uns richtet, weiß man nie, wo die Antwort aufhören wird. Als ich ins Tal kam, betrug die Bevölkerung siebenhundert Seelen; jetzt zählt man ihrer zweitausend. Die Angelegenheit mit dem letzten Kretinen hat mir jedermanns Schätzung eingetragen. Nachdem ich den von mir Verwalteten beständig Milde und Festigkeit zugleich gezeigt hatte, wurde ich das Bezirksorakel. Ich tat alles, um das Vertrauen zu verdienen, ohne es weder herauszufordern, noch scheinbar zu wünschen; nur bemühte ich mich, allen den größten Respekt vor meiner Person durch die Gewissenhaftigkeit einzuflößen, mit der ich alle meine Verpflichtungen, selbst die unbedeutendsten, zu erfüllen wußte. Nachdem ich versprochen hatte, für das arme Wesen, das Sie eben sterben sahen, Sorge zu tragen, wachte ich besser über den Kretinen, als es seine früheren Beschützer getan hatten. Als Adoptivkind der Gemeinde wurde er genährt und gepflegt. Später haben die Bewohner schließlich den Dienst, welchen ich ihnen wider ihren Willen geleistet hatte, begriffen. Nichtsdestoweniger bewahren sie noch einen Rest ihres ehemaligen Aberglaubens.
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