Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Prolog
4. Dezember 2009,
Perugia, Italien
A ls ich den alten Gerichtssaal von Perugia betrat, in dem seit Jahrhunderten Urteile ergingen, betete ich im Stillen, die Tradition der Gerechtigkeit möge mich jetzt beschützen. Ich warf einen Blick auf das große Kruzifix an der Wand oberhalb der Richterbank. Wachen mit blauen Mützen nahmen mich in ihre Mitte und schoben mich vorwärts. Der Raum war überfüllt mit Polizisten, Anwälten und Journalisten, aber es herrschte nervtötende Stille. Merediths Familie sah ich nicht. Allerdings meine Mutter, meinen Vater, meine Stiefmutter, meinen Stiefvater, Deanna – sie alle standen an einer Seite und gaben mir mit Lippenbewegungen zu verstehen: »Ich hab dich lieb.« Meine anderen Schwestern waren zu jung und durften nicht in den Gerichtssaal; sie warteten aber draußen vor den Doppeltüren auf mich.
Die Ungerechtigkeit war endlich – fast – vorbei.
Vier Minuten nach Mitternacht erklang eine Glocke, und die Gerichtsdienerin verkündete: »La corte.«
Die Richter in schwarzen Roben und die Schöffen mit ihren Schärpen in den italienischen Nationalfarben Rot-Weiß-Grün traten feierlich durch die Tür. Sie blickten streng über unsere erwartungsvollen Gesichter hinweg, während sie an ihre Plätze gingen.
Ich stand zwischen meinen beiden italienischen Anwälten, griff nach der Hand des Größeren – des Mannes, der mir in all den Monaten immer wieder gesagt hatte: »Nur Mut, Amanda, den brauchen Sie. Wir erledigen den Rest.«
Ich holte tief Luft, als der Richter das Blatt Papier in die Hand nahm und mit ruhiger, monotoner Stimme die Paragraphen vortrug, gegen die ich verstoßen hatte.
Jemand hinter mir jammerte: »Nein!«, eine Sekunde bevor ich den Richter »colpevole« sagen hörte – »schuldig«. Zitternd schmiegte ich mich an die Brust meines Anwalts, der seinen kräftigen Arm um mich legte. Das Blut pochte mir in den Ohren. Ich stöhnte immerzu: »Nein, nein, nein.« Ich dachte, das ist unmöglich, das kann nicht sein, das ist ein Albtraum, das kann nicht wahr sein, es ist ungerecht, einfach ungerecht . Überall waren Menschen, die lautstark für oder gegen mich Partei ergriffen. Hände streckten sich nach mir aus, berührten mich – ich wusste nicht, wem sie gehörten. Über all den Lärm und das Durcheinander hinweg hörte ich meine Schwester und meine Mutter schluchzen.
Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Die Wachen hielten mich unter den Achseln aufrecht und schleiften mich aus dem Gerichtssaal. Im Chaos meiner zerschmetterten Welt hörte ich nicht, wie der Richter mich zu sechsundzwanzig Jahren verurteilte.
Aus. Aus und vorbei.
Erster Teil
1
April–August 2007,
Seattle, USA
M eine Mutter saß neben mir in unserer Lieblingsnische. Mein Vater nahm uns gegenüber Platz.
»Worum geht’s denn?«, fragte er.
Ich konnte kaum glauben, dass wir drei wirklich dort zusammensaßen. Mit meinen Eltern Salat zu essen klingt nicht gerade nach einer großen Sache, aber für mich war es das. Beiden dürfte höchst unbehaglich zumute gewesen sein. Ich war neunzehn, und soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich meine Eltern nie am selben Tisch sitzen, geschweige denn gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen sehen. Ich war ein Jahr alt gewesen – meine Mutter war gerade mit meiner Schwester Deanna schwanger –, als sie und mein Vater sich trennten. Seitdem hatten sie nur selten miteinander gesprochen, nicht einmal am Telefon. Der Beweis dafür, wie sehr sie mich beide liebten, war dieses Wiedersehen im Eats Market Café in West Seattle. Meine Mutter zupfte an ihren Fingernägeln. Mein Vater gab sich geschäftsmäßig. Ihr Lächeln galt ausschließlich mir.
Wie meine Eltern ihre Scheidung handhabten, war der beste Beleg dafür, wie sehr sie Deanna und mich liebten. Sie kauften sich Häuser, die nur zwei Straßen voneinander entfernt lagen, um uns die Vorteile einer Zweielternfamilie zukommen zu lassen und uns nie das Gefühl zu geben, zwischen ihnen hin- und hergerissen zu werden. Nie habe ich kritische Töne des einen über den anderen gehört. Füreinander aber waren sie unsichtbar, entweder durch zwei Häuserblocks oder zwei Reihen bei einer Theatervorstellung in der Schule getrennt. Beide feuerten mich bei Fußballspielen vom Spielfeldrand an, eine Pufferzone aus anderen Eltern zwischen sich.
Die dauerhafte Trennung bedeutete, dass ich meine Neuigkeiten immer zweimal mitteilen musste. Diesmal hatte ich meine Eltern jedoch an einen Tisch
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