Der lange Schatten
einmal steche ich zu. Obwohl es nicht notwendig wäre. Doch es tut gut, sich abzureagieren. Dann renne ich den Weg zurück, ohne zu wissen, ob Luc mir folgt. Zeit und Raum greifen ineinander, bis alles zu zerfließen scheint.
Es hat sich nicht gelohnt!, hämmert es in meinem Kopf. Meine Schritte auf dem regennassen Kopfsteinpflaster durchbrechen die Schallmauer und eilen mir weit voraus. Immer noch habe ich das Messer in der Hand. Ich schwenke es durch die Luft und renne, renne …
Von Luc keine Spur.
Ich bin allein in meinem Traum.
ERSTER TEIL
1. KAPITEL
Der Dieb Jacques-Nicolas Pelletier hatte das traurige Privileg, als Erster einer Reihe zum Tode Verurteilter seinen Kopf zwischen die halbkreisförmig ausgesägten Bretter zu legen. Die Exekution verlief zur völligen Zufriedenheit sämtlicher anwesender Zeugen. Das scharfe Fallbeil wog 37 Kilogramm und traf den Hals des Verurteilten aus einer Höhe von 2 Meter 25, mit einer Geschwindigkeit von 23,4 Kilometer in der Stunde. Der Tod trat infolge der Durchtrennung der Halswirbelsäule ein.«
»Hör auf, Papa, das ist ja schrecklich!« LaBréas Tochter Jenny wandte sich ab.
»Wieso? Erstens steht das hier auf der Tafel, und zweitens ist das ja schon lange her.«
»Trotzdem. Wenn ich mir das vorstelle: Man bekommt den Kopf abgehackt …«
Voller Abscheu, doch auch mit einem leisen Schauer des Grauens warf Jenny erneut einen Blick auf die Guillotine. Sie ragte an der Kopfseite des Ausstellungsraumes auf, drohend, düster, ein Schreckensmahnmal aus vergangener Zeit.
Céline Charpentier, LaBréas Freundin, blätterte im Katalog der Ausstellung.
»Die Hinrichtungen, besonders zur Zeit der Revolution, fanden unter großer Anteilnahme eines schaulustigen Publikums öffentlich statt«, las sie laut. »Die letzte solche öffentliche Hinrichtung gab es 1939. Da wurde ein sechsfacher Mörder zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Der letzte Mensch, der in Frankreich auf der Guillotine hingerichtet wurde, war 1977 ein Mann aus Marseille, der seine Geliebte erdrosselt hatte.«
»Und 1981 wurde dann die Todesstrafe durch Präsident Mitterrand in unserem Land ganz abgeschafft«, fügte LaBréa ergänzend hinzu. »Gott sei Dank, kann ich nur sagen!«
Die drei verließen den halbdunklen Raum mit der hoch aufragenden Fallbeilkonstruktion, deren hunderttausendfacher Gebrauch während der Revolution nicht nur die Feinde des Volkes getroffen hatte. Zur Zeit der Schreckensherrschaft von Robespierre rollten wöchentlich auch Tausende Köpfe unschuldiger Bürger in die blutgetränkten Weidenkörbe unter dem Fallbeil.
Im nächsten Ausstellungsraum waren Gemälde und Zeichnungen zu sehen. Sie stammten aus verschiedenen Epochen und widmeten sich allesamt dem Thema »Schuld und Sühne«. Es war die erste große Ausstellung dieser Art in Paris. Céline, als Malerin eine leidenschaftliche Besucherin von Museen und Galerien, hatte LaBréa und Jenny am heutigen Mittwoch, dem schulfreien Tag in Frankreich, ins Musée d’Orsay entführt.
Jenny und Céline betrachteten ein Gemälde von Paul Baudry, während LaBréa sich einem Bild von Edvard Munch näherte. Beide Kunstwerke zeigten die Ermordung von Jean Paul Marat durch Charlotte Corday. Munchs Bild stammte aus dem Jahr 1907, und Opfer und Täterin hatte der Künstler nackt dargestellt. Während LaBréa noch über die mögliche Bedeutung dieser künstlerischen Eingebung nachsann, klingelte sein Handy.
Jenny wandte den Kopf und warf ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Ja?«, sagte LaBréa, verstummte einen Moment und fragte dann: »Rue Massillon, das ist doch gleich hinter Notre-Dame . Welche Nummer? Gut, ich bin gerade im Musée d’Orsay – zu Fuß schaffe ich es in einer knappen Viertelstunde.«
Er wandte sich an Céline und Jenny. »Leider muss ich sofort weg.«
»Hätte man sich ja denken können«, warf Jenny schnippisch ein. »Nicht einmal kann man irgendwas in Ruhe mit dir unternehmen!«
»Eben hatte ich noch den Eindruck, als ob du hier so schnell wie möglich wieder rauswillst!«, antwortete LaBréa. Ostentativ wandte sich Jenny erneut dem Gemälde Baudrys zu.
LaBréa küsste Céline auf die Wangen.
»Tut mir leid, Liebes, dass ich dich nicht zur Ärztin begleiten kann. Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist.«
»Davon gehe ich aus, Maurice.«
»Ich melde mich bei dir!«
Céline nickte. Als LaBréa mit eiligen Schritten den Ausstellungsraum verließ, legte Céline den Arm um Jennys
Weitere Kostenlose Bücher