Der lange Schatten
PROLOG
Regennasses Kopfsteinpflaster.
Uneben, rutschig.
Das Klacken von Schritten. Immer schneller.
Sind es meine Schritte? Da muss doch noch jemand sein … Wir waren zu zweit! Wo ist er, mein Kumpel? Ich höre meinen Herzschlag. Dumpf, wie rasch aufeinanderfolgende Hammerschläge. Warum so aufgeregt? Warum diese hastigen Atemzüge, die in der Stille der menschenleeren Straße nachhallen wie das Zischen eines riesigen Blasebalgs?
Rechts und links die Schatten der Häuserfronten. Autos parken dicht an dicht, sie wirken verzerrt und bedrohlich. Ziehen vorbei wie im Zeitraffer.
Wo ist Luc? Eben war er noch hinter mir. Ich drehe mich um, doch die Straße liegt in völliger Dunkelheit. Ein schwarzes Nichts, das näher zu kommen scheint. Wenn ich nicht aufpasse, greift es nach mir.
Ich haste vorwärts. Luc, wo bist du? Allein schaffe ich das nicht. Oder doch? Vielleicht ist es leichter als gedacht. Aber du warst doch derjenige, du wolltest doch … Und es war deine Idee! Verdammt, wo bist du?
Da. Jetzt taucht es vor mir auf. Das zweistöckige Haus mit Vorgarten. Luc hatte es vor einigen Tagen ausspioniert. Eine sichere Sache, vor allem um die Abendzeit. Kein Licht hinter den Fensterscheiben. Ist sie überhaupt da? Aber ja, sie ist immer da um diese Uhrzeit. Luc hat es gecheckt.
Die Stufen zum Hauseingang. Plötzlich verschwimmen sie vor meinen Augen, als würden sie von Wasser überspült.
Die Haustür. Sie ist verschlossen. Aber Luc hat vorgesorgt. Wo ist er?
»Luc, wo bist du?« Meine Stimme hallt wie ein tausendfaches Echo. Gleich wird Licht aufflammen in den umliegenden Häusern, Fenster werden aufgerissen … Doch nichts geschieht. Schwarz ist die Nacht und wird es bleiben.
Langsam gehe ich auf den Hauseingang zu. Wie von Zauberhand tauchen die Stufen wieder aus dem Wasser auf. Von irgendwoher weht ein scharfer Wind, er fegt welke Blätter vor die Eingangstür. Als ich dort ankomme, wate ich knöcheltief im Laub.
Luc, wo bist du? Du musst die Tür öffnen … Mein Blick fällt auf das Messingschild neben dem Eingang. Ich vergewissere mich. Ja, hier ist es. Hier wollen wir hin. Wir holen uns das, was wir brauchen.
Wie von weit her dringt plötzlich eine Stimme an mein Ohr.
»Na los, Kumpel, worauf warten wir?«
Luc ist wieder da. Unsichtbar, ein Phantom, aber er ist da. Ich höre ihn.
»Hol dein Messer raus!« Seine Stimme ist in mir, kommt aus meinem Innern. »Ich zeig dir, wie es geht.«
Ich befolge seine Anweisung und lasse das Schloss aufschnappen. Das Messer behalte ich in der Hand. Langsam öffne ich die Tür. Ein erneuter Windstoß. Das Laub von meinen Füßen drängt in den Spalt, scheint mir den Weg zu weisen.
Innen die gleiche Dunkelheit wie draußen.
»Luc, bist du noch da?«
»Ja, ich bin da!«
Warum sehe ich ihn nicht?
»Du musst es tun!« Erneut Lucs Stimme.
Ja. Ich muss es tun. Ich habe keine Wahl. Luc ist an meiner Seite, so oder so.
Mein pochender Herzschlag, meine Atemzüge aus dem Blasebalg. Das Brausen des Windes schwillt an, begleitet mich auf meinem Weg durch den ersten Raum. Im düsteren Licht eine Reihe Stühle. Plakate an den Wänden, Poster. Auch eines, das sich an Leute wie mich wendet. Ich spüre, wie meine Lippen sich zu einem verächtlichen Grinsen verziehen.
Es treibt mich jetzt immer stärker voran. Da ist die Tür zum nächsten Raum. Sie steht einen Spalt offen. Was ist, wenn meine Schritte zu hören sind? Niemand zeigt sich, niemand reagiert. Und doch weiß ich, dass sie da ist. Sie wird allein sein und mich nicht hören.
Ist Luc bereit? Ich bin es. Fest umklammert meine Hand das Messer. Mit dem Fuß stoße ich die Tür auf.
Sie ist da, und sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Der Lichtkegel ihrer Lampe schimmert schwach. Die Hände ineinander verschränkt, den Kopf gesenkt, demütig, als hätte sie auf uns gewartet. Und auf ihr Schicksal. Jetzt springt sie auf, will sich in Sicherheit bringen. Doch schon bin ich über ihr. Ich weiß, dass Luc an meiner Seite ist. Gemeinsam tun wir es. Sie wehrt sich, doch wir sind zu zweit. Es ist leichter, als ich dachte. Eine leichte Beute! Im Handumdrehen erledigt. Ihr Blut spritzt nach allen Seiten, es füllt den Raum, steigt an wie eine Flut. Schnell greife ich nach ihrer Handtasche, die auf dem Schreibtisch liegt. Im Portemonnaie finde ich nur 75 Euro. Zu wenig! Es reicht nicht einmal für eine minderwertige Notration. Panik wallt in mir auf. Mein Körper rebelliert. Er ist bereits am Limit.
Verzweiflung, Wut.
Noch
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