Der leiseste Verdacht
und konnte sich allenfalls vorstellen, dass er in seinen eigenen vier Wänden ein anderes Gesicht zeigte. Doch dass er ein Psychopath war, konnte sie nicht so recht glauben. Darum versuchte sie weiter auf Annika einzuwirken: »Glaubst du wirklich nicht, dass man mit ihm reden kann? Ich meine, wenn er dich schlägt, dann muss er doch verstehen, dass du …«
Sie verlor den Faden und starrte die Frau neben sich verwundert an.
Wild entschlossen begann Annika ihre Jacke aufzuknöpfen.
Sie riss sie sich vom Leib, zog sich den Pullover über den Kopf und entblößte ihren Oberkörper. Im diesigen Morgenlicht sah Katharina, dass er von zahlreichen Blutergüssen blauschwarz verfärbt war.
»Er schlägt mir nicht ins Gesicht, weil er nicht will, dass jemand etwas merkt. Aber er tritt mir in die Rippen, in den Bauch und in den Rücken«, sagte sie und drehte sich um, damit Katharina die dunklen Schatten zwischen ihren Schulterblättern sehen konnte. Ihre Stimme klang jetzt sachlich und kühl, als erklärte sie die anatomischen Besonderheiten eines fremden Körpers.
Katharina spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Für einen Moment fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie wandte 174
den Kopf ab und biss sich fest auf die Lippen. Ihre Handflächen waren schweißnass, und während Annika ihren Pullover wieder überstreifte und sich mühselig die Jacke anzog, unterdrückte sie den Impuls, Marco Fermi lauthals zu beschimpfen. Stattdessen verfluchte sie sich für ihre Gutgläubigkeit. Herrgott, was für ein Monster! Und ihn hatte sie sympathisch gefunden. So viel zu ihrer Intuition.
Schließlich sagte sie mit unsicherer Stimme: »Wie hältst du das nur aus? Du musst doch fürchterliche Schmerzen haben? Du brauchst dringend einen Arzt.«
»Ach, das bin ich gewohnt«, sagte Annika mit einer Gleichmütigkeit, die Katharina schaudern ließ. »Außerdem würde es nur weiteren Ärger geben, wenn ich zum Arzt ginge.
Nein, ich muss nach Stockholm und mich verstecken.«
Katharina wusste nicht, was sie mehr erschreckte, die sadistische Misshandlung selbst oder die sonderbare Gleichgültigkeit des Opfers seinem geschundenen Körper gegenüber. Sie kämpfte mit sich, wollte wirklich nach Hause, sofort, konnte aber Annika unmöglich hier am Straßenrand stehen lassen.
»Ich fahre dich in die Stadt«, sagte sie und ließ den Motor an.
Es war jetzt fast ganz hell, der Regen hatte aufgehört. Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, fragte Katharina:
»Wie lange seid ihr schon verheiratet?«
»Seit fünf Jahren.«
»Hat er dich … die ganze Zeit misshandelt?«
Annika schüttelte den Kopf. »Nein, am Anfang nicht, als wir noch in Farsta wohnten. Damals war er die meiste Zeit als Fernfahrer in ganz Europa unterwegs. Wenn er nach Hause kam, war er meistens recht gut gelaunt. Aber dann bekam er so viel zu tun, und wir sind in eine größere Wohnung umgezogen. Er hat alle möglichen Jobs gehabt und musste ständig irgendwelche Leute treffen. Er war immer im Stress. Damals fing er an, mich 175
zu schlagen. Ich sah ihn so selten, und wenn ich mich darüber beschwerte, wurde er böse und hat mir eine verpasst. Meistens hat er mich dann noch einmal geschlagen, damit ich den Mund halte. Später, als er diesen Job bei Nygren bekam, hat er sich darauf gefreut, nicht mehr ständig mit seinem Lastwagen unterwegs sein zu müssen. Er sagte, auf dem Land hätten wir es besser. Ich war glücklich, weil ich dachte, jetzt würde er sich endlich wieder entspannen und brauchte nicht mehr so viel unterwegs zu sein. Aber es wurde nichts besser. Im Gegenteil.
Seit wir hierher gezogen sind, scheint er mir ständig aus dem Weg zu gehen. Nicht einmal abends hält er es zu Hause aus.
Entweder hockt er bei Bengt oder er fährt in die Stadt. Und wenn er mich dann mal zu Gesicht bekommt, findet er sofort einen Grund, mich wieder zu schlagen. Egal, was ich tue, ich kann es ihm einfach nicht recht machen.«
Ihre Tränen begannen wieder zu fließen, und Katharina gab ihr weitere Papiertaschentücher.
»Meinst du, dass Bengt Nygren zu Marcos Freunden gehört?«, fragte sie verwundert.
»Nein, sicher nicht. Er ist wirklich sehr nett. Ich meine, natürlich behandelt er Marco wie einen Freund. Er war uns beiden gegenüber von Anfang an sehr freundlich, obwohl ich ihn nicht kannte, ehe wir nach Knigarp kamen. Aber Marco kennt ihn schon lange. Er sagt, Bengt habe ihm seinen ersten Job in Schweden verschafft.«
»Er weiß also nicht, dass Marco dich
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