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Der leiseste Verdacht

Der leiseste Verdacht

Titel: Der leiseste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Brink
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eines Abgrunds bewegte. Da ihr aber nichts anderes übrig blieb, als sich ein ums andere Mal die Katastrophe zu vergegenwärtigen, die über sie hereingebrochen war, wurde sie nur immer wacher und unglücklicher.
    Um halb vier hatte sie den Punkt erreicht, an dem sie sich fragte, was sie eigentlich auf Kajsas Schlafsofa zu suchen hatte.
    Sie stand auf und zog sich an, suchte ihre Sachen zusammen und machte das Bett, so gut sie es vermochte, ohne Kajsa und Joakim zu wecken. Sie setzte sich an den Couchtisch und schrieb einen kurzen Brief:
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    Liebe Kajsa, ich habe ein paar Stunden wach gelegen und nachgedacht.
    Es hilft nichts, ich muss nach Hause. Jetzt! Ich kann heute nicht arbeiten. Würdest du mich bitte krankmelden? Eine starke Erkältung reicht als Begründung. Danke für all deine Unterstützung. Ohne dich hätte ich diese Situation nicht überstanden.

    Umarmung Katharina

    PS: Ich wollte das Schlafsofa nicht zusammenklappen, damit ihr nicht aufwacht.

    Sie schlich auf den Flur hinaus und lauschte gespannt, ob sie aus Kajsas Schlafzimmer irgendwelche Geräusche hörte. Sie wollte auf keinen Fall auf frischer Tat ertappt werden und sich überreden lassen, doch Vernunft anzunehmen und wieder ins Bett zu gehen. So lautlos wie nur irgend möglich ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.
    Draußen war es kühl und immer noch ziemlich dunkel. Im dichten Nieselregen eilte sie zum Auto.
    Als sie aus der Stadt herausfuhr, empfand sie eine große Erleichterung. Warum, konnte sie selbst nicht sagen. Vielleicht, weil sie sich endlich eingestanden hatte, dass sie trotz allem bei ihm sein wollte. Sie kam sich vor, als sei sie in zwei Hälften geteilt. Länger als vierundzwanzig Stunden hatte sie der verletzten und benachteiligten Hälfte von sich alle Aufmerksamkeit gewidmet. Diese war keinesfalls besänftigt, bloß vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Die andere Hälfte lechzte danach, sich auf seine Seite zu schlagen und mit ihm gemeinsam gegen alle erdenklichen Bedrohungen von außen zu kämpfen. Natürlich war er ein Schuft, aber er hatte niemanden 167

    ermordet, und sie dachte nicht daran, ihr Leben von einer Laune des Schicksals in Scherben schlagen zu lassen. Es tat unendlich gut, den Grübeleien der Nacht zu entkommen und wieder aktiv zu werden. Zusammen würden sie auch diesen Sturm überstehen.
    Sie fühlte sich souverän aller kleinlichen Anschauungen über Betrug, Schuld und Vergebung enthoben. Sie befand sich in einer höheren Sphäre, in der solche Dinge nur von untergeordneter Bedeutung waren. Leicht würde es nicht werden, das bildete sie sich keinesfalls ein. Sie würden lange gegen ihre wechselseitigen Zweifel ankämpfen müssen, und sie musste sorgsam und geduldig ihr verlorenes Vertrauen zu ihm wieder aufbauen. Aber dies war ihr schon früher gelungen, und letztlich gab es für sie auch keine Alternative, denn ein Leben ohne ihn war schlichtweg unvorstellbar. Wie oft hatte sie sich nicht schon heulend und zähneklappernd mit seinen unerträglichen Seiten abgefunden, weil sie auf seine anziehenden nicht verzichten konnte?
    Es war herrlich, durch die Nacht zu fahren. Keine Fahrzeuge weit und breit. Der Motor schnurrte sanft und gleichmäßig. Sie fühlte sich hellwach und energiegeladen. Einsam und frei flog sie in ihrem weißen Fiat über die regennasse Fahrbahn, umgeben von einer unendlichen, stillen Landschaft. Sie warf einen Blick auf den Tacho. Hundertzwanzig! Sie ging vom Gas.
    Besser, sich in Acht zu nehmen. Ihre Euphorie hatte womöglich dieselbe Wirkung wie eine Flasche Wein. Ein überraschend auftauchender Elch konnte ihr jederzeit zum Verhängnis werden. Zu dieser Tageszeit waren sie am aktivsten. Sie drosselte die Geschwindigkeit weiter.
    Was tat er gerade? Schlief er? Oder warf er sich ruhelos hin und her? Wie hatte sie ihn nur so herzlos im Stich lassen können, nachdem sie eben erst erfahren hatte, was für einer Bedrohung er ausgesetzt war? Wenn er nur nicht glaubte, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Natürlich wollte sie sich ihm 168

    nicht gleich in die Arme werfen und großmütig alles verzeihen.
    Er hatte sich abscheulich benommen, an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Doch wie sehr sie ihn vermisste! Natürlich würden sie die Vorfälle wieder einholen und sie schrecklich belasten. Aber dies sollte ihr nicht mehr zu schaffen machen als eine schwere Erkältung, die nach und nach ausheilte.
    Die Landschaft hatte kaum merklich die Farbe gewechselt.
    Alles,

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