Der leiseste Verdacht
sie in der Verfassung, sich selbst zu helfen?
Als könnte Annika ihre Gedanken lesen, fragte sie: »Glaubst du mir etwa nicht?«
Als Katharina schwieg, sagte sie leise: »Könntest du mich jetzt bitte zum Bahnhof bringen? Ich will nicht mehr länger im Auto sein.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Katharina aufrichtig. »Sagte er, dass er jemanden getötet hat?«
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Annika hatte sich einen Lippenstift aus ihrer Jackentasche geangelt und fing zu Katharinas Bestürzung an, ihre geschwollenen Lippen blutrot nachzuziehen. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, sagte sie: »Nein, das sagte er nicht, aber er verrät mir nie, was er tut.«
Katharina fand diese Bemerkung so seltsam, dass sie ein nervöses Auflachen nicht verhindern konnte, doch als sie Annikas erstaunten Blick wahrnahm, strich sie ihr hastig über die Haare und sagte: »Entschuldige, aber ich bin so schockiert, dass ich weder ein noch aus weiß.«
Sie fasste einen plötzlichen Beschluss. Sie würde Annika nicht im Stich lassen, ganz gleich, ob deren blutrünstige Geschichte der Wahrheit entsprach oder nicht. Sie hatte versprochen, sie zum Bahnhof zu bringen, und sie hatte versprochen, nicht zur Polizei zu gehen. Sie ließ den Motor an und sagte: »Ich bringe dich jetzt zum Zug.«
Als sie am Bahnhof ankamen, war es kurz nach halb sieben.
Katharina begleitete Annika zum Schalter und gab Acht, dass sie die richtige Fahrkarte löste. Sie stellten fest, dass der nächste Zug nach Stockholm in einer halben Stunde abfahren sollte.
Gemeinsam gingen sie zu einem Kiosk und kauften Obst, Schokolade und ein paar Zeitungen. Dann setzten sie sich auf den Bahnsteig, aßen schweigend die Schokolade und warteten.
Als Annika in den Zug stieg, drehte sie sich in der Tür noch einmal um. Sie suchte in ihren tiefen Jackentaschen und zog aus der einen mehrere ineinander verfangene Schmuckstücke: ein paar Armbänder und einige Halsketten. Mit Mühe gelang es ihr, ein schmales Armband mit einem Anhänger in Form eines vierblättrigen Kleeblatts loszubekommen. Sie lächelte verlegen und gab es Katharina.
»Ich habe meinen Schmuck einfach zusammengerafft«, sagte sie. »Das Armband soll dich an mich erinnern.«
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Katharina versicherte ihr, dass sie das nicht annehmen könne, doch als sie den kindlichen Ausdruck der Enttäuschung in Annikas Gesicht sah, streckte sie rasch die Hand aus und nahm das Armband entgegen. Nachdem der Zug außer Sichtweite war, betrachtete sie das Schmuckstück eingehender. Es war ein schlichtes, schmales goldenes Armband, in dessen Anhänger
»Viel Glück« eingraviert war.
Sie steckte es in die Tasche und ging zum Auto.
Auf dem Heimweg geriet sie mitten in den morgendlichen Berufsverkehr. Ihr Kopfweh war stärker geworden, und sie musste ihre ganze Konzentration aufbringen, um die Müdigkeit zu unterdrücken. Nachdem sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatte, brach plötzlich die Sonne hervor. Die Wolkendecke war immer dünner geworden, vermutlich würde es ein sonniger, warmer Tag werden. Aber das interessierte sie jetzt nicht. Sie wollte nur nach Hause, die Vorhänge zuziehen und ausschlafen. Wäre dies ein normaler Tag gewesen, hätte sie sich über das Wetter gefreut. An solch einem Tag konnte nichts sie davon abbringen, sich lustvoll im Garten zu schaffen zu machen. Und normalerweise hätte sie Patrik zu einem vorgezogenen Lunch in der Gartenlaube überredet, ehe sie zur Arbeit gefahren wäre. Doch leider war nichts mehr normal. Eine Leiche in der Jauchegrube des Nachbarn. Patriks furchtbares Geständnis. Der Mordverdacht gegen ihn. Marco entlarvt als sadistischer Schläger und womöglich wahnsinniger Mörder. Ihre Idylle lag in Scherben. Falls es jemals eine Idylle gewesen war.
Würde jemals wieder alles so werden wie früher? Sie hatte nicht genug Energie, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen.
Sie wollte nur schlafen. Im grellen Morgenlicht fragte sie sich, warum sie es in der vergangenen Nacht nicht hatte erwarten können, nach Hause zu kommen. Patrik hatte schließlich nicht in unmittelbarer Gefahr geschwebt. Ihr überwältigendes Verlangen, mit ihm zu reden, war verflogen. Sie hoffte wirklich, dass er so vernünftig war, zu schlafen, wenn sie nach Hause 183
kam. Sie wollte ihn nicht sehen, ehe sie nicht selbst einigermaßen ausgeschlafen hatte. Dann konnten sie immer noch reden, Sie gähnte aus vollem Hals und fröstelte ein wenig.
Sie fühlte sich reizbar, ihr Körper war steif nach der
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