Der leiseste Verdacht
bin abgehauen. Ich muss zurück nach Stockholm.«
»Abgehauen?«, wiederholte Katharina ungläubig. »Er weiß also nicht, dass du ihn verlassen hast?«
»Nein … ich … halte das nicht länger aus, und ich hasse diesen ekelhaften Schweinehof. Er kümmert sich einen Dreck um mich. Das hat er noch nie getan. Als wir noch in Stockholm 171
lebten, hat er mir versprochen, dass alles gut wird, wenn wir aufs Land ziehen. Er sagte, dann würde er viel mehr Zeit für mich haben. Aber ich kriege ihn fast nie zu Gesicht. Auch jetzt ist er fast nie zu Hause.«
Katharina begriff resigniert, dass dieses Gespräch längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Wie gern auch immer sie nach Hause wollte, jetzt musste sie die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt hatte. Sie hatte selbst Schuld. Die junge Frau, die neben ihr saß, war klein und schmächtig und hatte eine Auseinandersetzung mit ihrem Mann gehabt, der gewalttätig geworden war. Dieser Mistkerl. Dem würde sie die Leviten lesen, wenn er ihr das nächste Mal über den Weg lief. Sie drehte sich um, warf einen Blick auf Annikas dürftige Tasche und nahm dann ihren gesamten Aufzug in Augenschein. Sie sah aus, als sei sie direkt aus dem Bett gestiegen und habe das Erstbeste angezogen, das ihr in die Hände gekommen war.
»Meinst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, nach Stockholm zu fahren?«, fragte sie vorsichtig.
Annika schnäuzte heftig in ein Papiertaschentuch.
»Ich muss nach Stockholm! Ich kann nicht länger hier bleiben«, erklärte sie verzweifelt.
Katharina lächelte sanft und war sich bewusst, dass sie der jungen Frau gegenüber eine mütterliche Attitüde annahm. Hätte sie nicht gewusst, dass sie vierundzwanzig ist, hätte sie Annika für achtzehn halten können. Und Marika, die tatsächlich achtzehn war, wirkte im Vergleich zu ihr wesentlich reifer.
»Dir hat es auf dem Land wahrscheinlich von Anfang an nicht gefallen, oder?«, fragte sie teilnahmsvoll.
Annika schlug die Hände vors Gesicht. Katharina beugte sich ihr entgegen, um zu hören, was sie sagte.
»Ich dachte ja auch, hier würde sich alles zum Guten wenden.
In Stockholm war er nie zu Hause. Er hatte so viele Freunde, die er immerzu treffen wollte, und mich hat er nie mitgenommen.
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Ich weiß, dass er auch andere Frauen getroffen hat, aber wenn ich ihn darauf ansprach, hat er mich geschlagen. Doch hier ist es noch viel schlimmer, weil ich nirgendwohin gehen kann und niemanden zum Reden habe. Ich bin immer allein.«
Erneut begann sie zu weinen.
Katharina hatte ein schlechtes Gewissen. Während der vier Monate, in denen das Ehepaar Fermi nun schon auf dem Hof wohnte, hatte sie vor allem Kontakt zu dem offenen und charmanten Marco gehabt. Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, seine junge Frau könnte eine Bekanntschaft wert sein. Abgesehen von belanglosem Geschwätz unter Nachbarn, hatten sie niemals eingehend miteinander geredet. Katharina hatte sie nicht für die Hellste gehalten und war davon ausgegangen, dass sie Freunde in der Stadt hatte. Sie arbeitete ja schließlich bei Domus. Hin und wieder war ihr durch den Kopf gegangen, dass es sich bei den Fermis um ein ziemlich ungleiches Paar handelte. Marco machte einen intelligenten und energischen Eindruck, während seine Frau schwerfällig und unpraktisch wirkte.
»Hast du jemanden in Stockholm, an den du dich wenden kannst?«, fragte sie.
Annika trocknete sich mit dem Jackenärmel das Gesicht.
»Ja, meine Eltern«, antwortete sie. »Aber bei ihnen kann ich nicht lange bleiben. Er könnte mich dort erwischen. Ich muss irgendwohin, wo er mich nicht findet.«
»Glaubst du denn wirklich, dass er dich verfolgen wird?
Vielleicht findet er sich damit ab, dass du genug hast.«
Annika warf ihr einen langen Blick zu, als wolle sie sagen, dass diese Vermutung mehr als naiv war.
»Wenn er mich erwischt, schlägt er mich tot«, sagte sie emotionslos. »Das hat er oft zu mir gesagt. Wenn ich abhaue, bringt er mich um.«
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Katharina schaute sie entsetzt an. »Warum zeigst du ihn nicht bei der Polizei an?«
Über Annikas schmales Gesicht huschte ein Anflug von Verachtung.
»Bei der Polizei?«, stieß sie höhnisch aus. »Was sollte die schon ausrichten? Marco hat viele Freunde. Ich könnte mich nie mehr sicher fühlen.«
Katharina fühlte sich der Situation nicht gewachsen.
Angenommen, Marco war tatsächlich ein cholerischer Macho, der seine Launen an seiner Frau ausließ. Sie vergegenwärtigte sich seine freundlichen Züge
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