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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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allmählich sag ich mir, was soll's? Ich probier alles. Also nicht alles. Keine Zwerge oder Pferde. Aber vielleicht geh ich tatsächlich mal in eine von diesen Bars, die ich nie in Erwägung gezogen hab. Oder doch in Erwägung gezogen, aber dann verworfen hab. Ich hab immer versucht, mich an die normalen Regeln zu halten, aber da ist nicht viel bei rausgekommen. Also sollte ich vielleicht mal was riskieren. Haben Sie schon mal was riskiert, Euer Ehren?«, fragte sie mich plötzlich, und ihre dunkelgrünen Augen waren wie Laser.
    »Wir haben alle schon mal was riskiert«, sagte ich leise.
    Das war der Wendepunkt. Jetzt sind ihre Kontaktversuche unverfroren und direkt, wenn wir allein sind - gewagte Zweideutigkeiten, Augenzwinkern, fehlt nur noch ein Bin-zu-haben-Schild. Vor ein paar Tagen stand sie plötzlich auf, legte sich eine Hand flach auf den Bauch, um ihre Bluse straff zu ziehen, und baute sich im Profil vor mir auf.
    »Finden Sie mich zu vollbusig?«, fragte sie.
    Ich ließ mir zu viel Zeit, um den Anblick zu genießen, ehe ich so neutral wie möglich antwortete, dass sie genau richtig sei.
    Ich habe zwei Entschuldigungen dafür, dass ich das alles so hinnehme. Erstens ist Anna mit vierunddreißig für eine Referendarin nicht mehr die Jüngste und weit über jede Entwicklungsstufe hinaus, in der ihr Verhalten als kindlich erklärt werden könnte. Zweitens wird sie nicht mehr lange hier sein. Kumari, inzwischen gesunde Mutter, hat letzte Woche angefangen, und Anna bleibt nur noch ein paar Tage, um sie einzuarbeiten. Für mich wird Annas Abschied eine echte Tragödie sein und gleichzeitig eine erhebliche Befreiung.
    Da sich mein Problem mit der Zeit von allein lösen wird, habe ich bisher unterlassen, was der gesunde Menschenverstand eigentlich erfordert, nämlich mich mit Anna zusammenzusetzen und ihr klipp und klar zu sagen: Nein. Behutsam. Sanft. Mit einer ehrlichen Verneigung vor den schmeichelnden Komplimenten, die ich bekomme. Aber nein, nein und noch mal nein. Ich habe die Rede mehrmals geprobt, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen, sie auch zu halten. Zum einen könnte das Ganze furchtbar peinlich für mich werden. Annas Sinn für Humor, den man in der heutigen Mars-und-Venus-Ära wohl als »männlich« bezeichnen könnte, grenzt oft ans Schlüpfrige. Ich fürchte noch immer, dass sie sagen wird, es wäre alles ein Witz gewesen, einfach bloß kleine Anzüglichkeiten, die wir alle uns dann und wann in dem sicheren Bewusstsein erlauben, dass wir sie nicht ernst meinen. Eine schwerer verdauliche Wahrheit ist, dass ich nicht unbedingt aufhören möchte, von dem puren Lebenswasser zu trinken, das die sexuelle Bereitschaft einer attraktiven fünfundzwanzig Jahre jüngeren Frau bedeutet, selbst wenn sie es nicht so ganz ernst meint.
    Aber mir war von Anfang an klar, dass ich nicht zugreifen werde. Ich weiß nicht, wie häufig körperliche Anziehung auf reinen Flirt beschränkt bleibt und niemals die am stärksten bewachte Grenze von allen überschreitet, die zwischen Fantasie und Tat, aber ich bin sicher, der Prozentsatz ist hoch. In den sechsunddreißig Jahren meiner Ehe hatte ich eine einzige Affäre - nicht mitgerechnet einen betrunkenen Quickie auf der Ladefläche eines Kombis, als ich in der Grundausbildung für die Nationalgarde war -, und dieser eine obsessive Ausrutscher in die reinen Exzesse der Lust führte geradewegs dazu, dass ich wegen Mordes vor Gericht landete. Wenn einer die Richtigkeit des Sprichworts »Gebranntes Kind scheut das Feuer« bestätigen können sollte, dann doch wohl ich.
    Ich habe kaum mehr als eine halbe Stunde in meinem Büro gearbeitet, als Anna wieder den Kopf hereinsteckt.
    »Ich glaube, Sie sind spät dran.« Sie hat recht. Ich muss zu meinem Geburtstagsdinner.
    »Mist«, sage ich. »Ich bin ein Schussel.«
    Sie gibt mir den USB-Stick, auf den sie jeden Abend die Entwürfe der Urteilsbegründungen lädt, die ich zu Hause durchsehen werde, und hilft mir in mein Jackett, streicht es über den Schultern glatt.
    »Noch mal, Euer Ehren, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagt sie und berührt den mittleren Knopf mit einem Finger. »Ich hoffe, dass alle Ihre Wünsche wahr werden.« Der Blick, mit dem sie mich ansieht, ist absolut natürlich, und dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen. Es ist einer von diesen Momenten, die so kitschig und offenkundig sind, dass sie einem irgendwie unwirklich vorkommen, aber ihre Lippen berühren meine, wenn auch nur ganz kurz. Wie

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