Der letzte Beweis
immer wehre ich mich nicht. Es durchläuft mich heiß, aber ich sage kein Wort, nicht mal Auf Wiedersehen, als ich zur Tür hinausgehe.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 4
Tommy Molto, 3.
Oktober 2008
Jim Brand klopfte an Tommys Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen und wartete, bis der Oberstaatsanwalt ihn hereinwinkte. 2006, während seiner ersten kurzen Amtszeit als Oberstaatsanwalt, hatte Tommy sich nicht genügend respektiert gefühlt. Nach über dreißig Jahren in dieser Behörde war sein Ruf als mürrischer Haudegen, der tagtäglich von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends arbeitete, dermaßen fest verwurzelt, dass es seinen Staatsanwälten irgendwie schwerfiel, ihn mit der Ehrerbietung zu behandeln, die ihm in seinem hohen Amt eigentlich gebührte. Als Erster Staatsanwalt hatte Brand das geändert. Dass er Molto respektierte und sympathisch fand, war offensichtlich, und für ihn war es selbstverständlich, kleine Gesten der Höflichkeit zu wahren - wie zum Beispiel anzuklopfen -, sodass die meisten Staatsanwälte Tommy inzwischen mit »Boss« begrüßten.
»Okay«, sagte Brand. »Wir haben was Neues über Rusty Sabichs Frau. Einen vorläufigen Obduktionsbericht.«
»Und?«
»Und er ist interessant. Bereit?«
Die Frage war es tatsächlich wert, gestellt zu werden. War Tommy bereit? Eine weitere Runde mit Rusty Sabich könnte sein Ruin sein. Der allgemeinen Meinung zufolge, die heutzutage im Justizgebäude herumschwebte wie das Fluorid im Trinkwasser, das aus dem Kindle-Fluss gewonnen wurde, hatte Nico im Fall Sabich voreilig Anklage erhoben. Tommy hatte mitgemacht, trug jedoch keine Verantwortung für die Entscheidungen, die unangemessen gewesen waren, aber nicht aus echter Boshaftigkeit getroffen wurden. Diese Auslegung kam allen gelegen. Nach seiner Abberufung als Oberstaatsanwalt war Nico nach Florida gezogen und hatte in dem Prozess gegen die Tabakindustrie zig Millionen Dollar verdient. Er besaß jetzt eine Insel in den Keys, auf die er Tommy und nun auch Dominga mindestens zweimal im Jahr einlud.
Was Tommy und Sabich betraf, so hatten sich beide nach einem persönlichen Desaster mühsam ans Ufer gerettet und ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Tatsächlich war es Rusty gewesen, der als kommissarischer Oberstaatsanwalt Tommy damals seinen Job zurückgegeben hatte und damit stillschweigend anerkannte, dass das ganze Gerede von untergeschobenen Beweisen Unsinn war. Wenn sie beide sich heute begegneten, was häufig vorkam, gelang ihnen eine angespannte Herzlichkeit, nicht nur aus beruflicher Notwendigkeit, sondern vielleicht auch, weil sie beide gemeinsam dieselbe Katastrophe überstanden hatten. Sie waren wie zwei Brüder, die sich nie gut verstehen würden, aber beide von derselben Erziehung gezeichnet und geprägt waren.
»Todesursache Herzversagen als Folge von Rhythmusstörungen und einer möglichen hypertensiven Reaktion«, sagte Brand.
»Und das ist interessant?«
»Ja, weil Sabich genau das Gleiche gesagt hat. Dass sie ein unregelmäßiges Herz und hohen Blutdruck hatte. Das hat er den Cops erzählt. So was kann man doch nicht erraten.«
»Ach, komm, Jim. Das lag wahrscheinlich in der Familie.«
»Genau das hat er auch gesagt. Dass ihr Vater auch an so was gestorben ist. Aber vielleicht ist ihre Aorta geplatzt. Vielleicht hatte sie einen Schlaganfall. Aber nein, er sagt glasklar: >Herzversagen.<«
»Zeig mal her«, sagte Molto. Er streckte die Hand nach dem Bericht aus und beschloss im selben Moment, dass es ratsam wäre, die Tür zu schließen. Vom Türrahmen aus blickte er durch das Vorzimmer seiner beiden Sekretärinnen auf den dunklen Flur. Mit diesen Büroräumen musste was passieren; das war noch so ein Gedanke, mit dem Tommy sich jeden Tag beschäftigte. In den drei Jahrzehnten, die Tommy hier arbeitete, und mindestens schon seit einem Vierteljahrhundert davor war die Staatsanwaltschaft in diesem trostlosen Bezirksgebäude untergebracht, wo das Licht trüb wie alter Schellack war. Das Haus war ein einziger Gefahrenherd, mit den Kabeln, die in Plastikkanälen über den Boden verliefen wie Wurstketten aus der Metzgerei, und den klappernden Fenstern, die noch immer die einzige Form einer Klimaanlage darstellten.
Nachdem er zu seinem Sessel zurückgekehrt war, las er die Obduktionsnotizen. Da stand es: Hypertensives Herzversagen. Sie hatte von ihrer Familie ein Herz geerbt, das so empfindlich war wie die Fesseln
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