Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
eines Rennpferdes, und sie war im Schlaf gestorben, vermutlich mit Fieber als Folge einer plötzlichen Erkältung. Angesichts ihrer bekannten Vorerkrankungen, so das Fazit des Rechtsmediziners, war vermutlich von einer natürlichen Todesursache auszugehen. Tommy schüttelte nur den Kopf.
    »Diese Frau«, sagte Brand, »war einen Meter sechzig groß und wog keine fünfzig Kilo. Sie hat jeden Tag Sport gemacht. Sie sah halb so alt aus, wie sie war.«
    »Jimmy, ich wette zehn Dollar, dass sie jeden Tag Sport getrieben hat, weil keiner in ihrer Familie älter als fünfundsechzig geworden ist. Gegen die Gene kommst du nicht an. Wie waren die Blutwerte?«
    »Die haben einen Immunassay gemacht. Das übliche Drogenscreening.«
    »Wurde irgendwas gefunden?«
    »Jede Menge sogar. Die Lady hatte einen Arzneischrank so groß wie ein Schiffskoffer. Aber sie hatte nichts im Blut, was ihr nicht verschrieben worden war. Sie hat jeden Abend Schlaftabletten genommen und jede Menge Zeugs gegen manische Depression.«
    Molto warf seinem Ersten Staatsanwalt einen Blick zu. »Und dieses Zeugs kann zu Herzversagen führen, richtig?«
    »Nicht in klinischer Dosierung. Ich meine, normalerweise nicht. Es ist schwer, solche Werte post mortem zu messen.«
    »Die Todesursache passt zur Krankengeschichte. Und falls sie keines natürlichen Todes gestorben ist, und dafür stehen die Chancen schätzungsweise eins zu fünfzig, dann hat sie versehentlich eine Überdosis ihrer Medikamente genommen.«
    Brand kräuselte die Lippen. Er hatte kein Gegenargument mehr, aber er war nicht zufrieden.
    »Und wieso sitzt der Mann dann vierundzwanzig Stunden einfach nur da?«, fragte er schließlich. Ein guter Ankläger konnte manchmal genau wie ein guter Cop aus nur einem einzigen Faktum einen ganzen Fall zimmern. Vielleicht hatte Brand recht. Aber er hatte keine Beweise.
    »Wir haben nichts in der Hand, was eine Ermittlung rechtfertigen würde«, erklärte Tommy. »Schon gar nicht gegen jemanden, der in gut drei Monaten im Obersten Bundesstaatsgericht sitzen wird und möglicherweise zu jeder Verurteilung, die wir hier erreichen, sein Ja oder Nein abgibt. Falls Rusty Sabich uns das Leben schwer machen will, dann kann er das zehn Jahre lang.«
    Noch während er mit seinem Ersten Staatsanwalt debattierte, wurde Tommy langsam klar, was hier vor sich ging. Rusty Sabich war für Brand niemand Besonderes. Es ging darum, was er für Tommy war. Damals vor zwei Jahrzehnten, als Rusty kommissarischer Oberstaatsanwalt war, musste Tommy, um seinen Job zurückzubekommen, zugeben, dass er während des Sabich-Prozesses gegen Verfahrensvorschriften der Behörde im Umgang mit Beweisen verstoßen hatte. Moltos Strafe war minimal, Verzicht auf Gehaltsnachzahlungen für das Jahr, in dem er nicht gearbeitet hatte, während die Ermittlung im Anschluss an den Prozess lief.
    Aber mit der Zeit war Tommys eingestandenes Fehlverhalten zur Last geworden. Inzwischen waren über die Hälfte der Richter am Kammergericht von Kindle County ehemalige Staatsanwälte, die früher mit Tommy gearbeitet hatten. Sie wussten, wer er war - zuverlässig, erfahren und berechenbar, wenn nicht sogar langweilig -, und hatten ihn nur allzu gern zum vorübergehenden Leiter der Behörde ernannt, als der gewählte Oberstaatsanwalt Moses Appleby zehn Tage nach seinem Amtseid zurücktrat, weil bei ihm ein inoperabler Gehirntumor diagnostiziert worden war. Aber das Zentralkomitee der Farmer- und Arbeiterpartei, bei dem jedes dreckige Geheimnis bekannt ist, war nicht bereit, Tommy für das Amt vorzuschlagen, ja, noch nicht mal für eine Richterstelle, den Posten, mit dem Tommy eigentlich liebäugelte, weil er für jemanden mit einer jungen Familie langfristig größere Sicherheit bot. Wähler hatten keinen Sinn für feine Unterschiede, und falls ein Wahlgegner Tommys Geständnis an die Öffentlichkeit brachte und so tat, als hätte Tommy eine Straftat gebeichtet, wären seine Chancen gleich null. Wenn er so eine düster faszinierende Ausstrahlung wie Rusty hätte, könnte er das vielleicht überwinden. Doch alles in allem war er froh, dass nur ein paar Insider von diesem dunklen Fleck in seiner Biografie wussten. Brand hatte zweifellos recht. Der Beweis, dass Sabich in Wahrheit ein Bösewicht war, könnte diese Schmach abwaschen. Selbst wenn alle alles wussten, würde es niemanden mehr interessieren, ob Tommy seine Kompetenzen überschritten hatte.
    Aber das war ziemlich weit hergeholt und die Risiken nicht wert.

Weitere Kostenlose Bücher