Der letzte Beweis
Diesen Posten zu bekleiden war jahrelang nur eine weitere von Tommys unerfüllten Sehnsüchten gewesen, und er verspürte die süße Kraft des Stolzes, weil er seine Sache gut machte. Wichtiger noch, er hatte Gelegenheit gehabt, viel von dem andauernden Schaden zu beheben, den sein Ruf durch die Anschuldigungen bei Rustys Prozess erlitten hatte, und wenn in zwei Jahren ein neuer Oberstaatsanwalt gewählt wurde, könnte Tommy den Mantel des Weißen Ritters zurückverlangen und in Richtung eines Jobs mit Spitzengehalt davonreiten, vielleicht als interner Ermittler bei irgendeinem Konzern. Das könnte er sich abschminken, wenn die Leute glaubten, er würde sein Amt für einen persönlichen Rachefeldzug missbrauchen.
»Jimmy, lass uns offen reden, okay? Ich kann mich unmöglich wieder mit Rusty Sabich anlegen. Ich hab einen einjährigen Sohn. Andere Männer in meinem Alter denken daran, sich zur Ruhe zu setzen. Ich muss an die Zukunft denken. Eine weitere Schlappe kann ich mir nicht leisten.« Tommy war immer wieder verdutzt darüber, wo er jetzt im Leben stand. Er hatte nicht vorgehabt, sich irgendwo dazwischenzudrängeln oder noch mal etwas Neues anzufangen, und auf einmal hatte er etwas von all dem, was er bislang vermisst hatte. Er hatte nie zu den Männern gehört, deren Ego so groß ist, dass sie sich einbilden, selbst der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können.
Doch Brands Blick sagte alles. Das war nicht Tommy Molto. Was er gerade gehört hatte, dieser Eigennutz, diese Vorsicht - das war nicht der Ankläger, den er kannte. Tommy spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, als er Brands Enttäuschung sah.
»Scheiße«, sagte Molto. »Was willst du?«
»Lass mich ein bisschen nachhaken«, sagte Brand. »Auf eigene Faust. Aber ich muss mich vergewissern, dass da wirklich nichts ist.«
»Falls irgendwas davon durchsickert, Jimmy, vor allem vor der Wahl, und wir nichts gefunden haben, dann kannst du gleich meine Traueranzeige schreiben. Hast du verstanden? Du setzt den Rest meines Lebens aufs Spiel.«
»Ich schweige wie Harpo Marx.« Er hob seine große kantige Hand und legte einen Finger an die Lippen.
»Scheiße«, sagte Tommy erneut.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 5
Rusty, 19. März 2007
Nachdem ich in Nearing, dem ehemaligen Fährhafen, der sich, ehe wir 1977 hierherzogen, schon zu einem regelrechten Vorort am Fluss gemausert hatte, aus dem Bus gestiegen bin, gehe ich noch schnell in die Apotheke, die für mich auf dem Weg liegt, um Barbaras Medikamente abzuholen. Wenige Monate nach meinem Prozess vor einundzwanzig Jahren hatten Barbara und ich uns getrennt, und zwar aus völlig einvernehmlichen Gründen. Vielleicht hätten wir uns später scheiden lassen, wenn bei ihr nicht im Anschluss an einen Selbstmordversuch eine bipolare Störung diagnostiziert worden wäre. Für mich reichte das letztlich als Entschuldigung dafür, es noch einmal zu versuchen. Nach dem Prozess, nach den Monaten des unaufhörlichen Abstiegs, ohne je das Gefühl zu haben, ganz unten angelangt zu sein, nach den Nächten voller wütender Vorwürfe gegen die Kollegen und Freunde, die sich gegen mich gewandt oder nicht genug getan hatten, nachdem all das allmählich in den Hintergrund trat, wollte ich das zurück, was ich von dem Moment an gewollt hatte, als der Albtraum begann: mein altes Leben. Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die Kraft, neu anzufangen. Oder mitzuerleben, wie mein Sohn, ein zartes Wesen, zum letzten Opfer dieser ganzen Tragödie wurde. Nat und Barbara zogen zurück aus Detroit, wo sie an der Wayne State University Mathematik gelehrt hatte, und ich stellte nur eine einzige Bedingung: Barbara musste mir schwören, peinlich genau die ihr verordneten Medikamente einzunehmen.
Ihre Stimmungen sind stark schwankend. Als alles gut lief, vor allem in den ersten Jahren, nachdem Nat und sie zurück nach Hause gekommen waren, fand ich sie weit weniger streitsüchtig und oft sogar amüsant. Aber ihre manische Seite fehlte ihr. Sie hatte nicht mehr den Willen oder die Energie für diese vierundzwanzig Stunden langen Computersitzungen, wenn sie irgendeiner undurchsichtigen mathematischen Theorie hinterherjagte wie ein hechelnder Hund, der fest entschlossen ist, den Fuchs zur Strecke zu bringen. Nach einiger Zeit gab sie ihren Beruf auf, was noch häufigere Schwermutsphasen zur Folge hatte. Inzwischen bezeichnet Barbara sich selbst als Laborratte und ist bereit,
Weitere Kostenlose Bücher