Der letzte Beweis
sie ihm am Gesicht an. Als ich ihn gestern Abend anrief, um ihm zu sagen, dass ich endlich zurückkommen würde, um die Vereinbarungen zu unterschreiben, die Sandy ausgehandelt hat, sagte er, dass er mich besuchen wolle, aber er ist früher da, als ich dachte. Die erste Herbstluft hat heute immer wieder Regen gebracht. Er trägt ein Sweatshirt mit Kapuze, und heftiger Wind zerzaust ihm das dunkle Haar.
Ich bin auf eine elementare Art glücklich, meinen Sohn zu sehen, obwohl sein Anblick auch mit einem gewissen Schmerz einhergeht. Wir wollen das Beste für unsere Kinder, aber es gibt so vieles, das sich unserer Kontrolle entzieht. Nat hat eine nervöse Angespanntheit an sich, einen unsteten Blick, der, wie ich vermute, wohl nicht mehr verschwinden wird, und einen tief verwurzelten Ernst, den ich selbst seit über sechzig Jahren beim Blick in den Spiegel sehe. Ich öffne die Tür, wir umarmen uns kurz, und er tritt an mir vorbei ins Haus, stampft sich den Regen von den Schuhen.
»Kaffee?«, frage ich.
»Gerne.« Er nimmt am Küchentisch Platz und schaut sich um. Es kann nicht leicht für ihn sein, in dieses Haus zurückzukehren, in dem während des letzten Jahres so viel emotional Belastendes geschehen ist. Das Schweigen zieht sich in die Länge, bis er mich fragt, wie es mir in Skageon ergangen ist.
»Ich hab mich wohlgefühlt.« Ich bin nicht sicher, ob ich noch mehr sagen soll, beschließe aber aus vielerlei Gründen, dass Offenheit das Beste ist. »Ich hab ziemlich viel Zeit mit Lorna Murphy verbracht. Du weißt doch, die Nachbarin von nebenan?« Das riesige Sommerhaus der Murphys nimmt sich neben unserem kleinen Cottage riesig aus.
»Im Ernst?« Trotz allem, was in den letzten beiden Jahren war, wirkt er eher verwundert als schockiert.
»Sie hat mir im letzten Herbst geschrieben, nach dem Tod deiner Mom, und danach haben wir irgendwie weiter Kontakt gehalten.«
»Ach so. Trauerbewältigung«, sagt der ewige Besserwisser.
Und vielleicht ist da sogar was dran. Lorna hat ihren Mann Matt, einen Baulöwen, vor vier Jahren verloren. Sie ist schlank und blond, ein paar Zentimeter größer als ich, und sie hat einen irgendwie störrischen Glauben an mich bekundet. Ich hatte es darauf zurückgeführt, dass sie lange gebraucht hat, ehe sie überhaupt an einen anderen Mann denken konnte, und deshalb ihre Meinung nach meiner Verurteilung einfach nicht mehr ändern wollte. Sie schrieb mir wöchentlich, als ich im Gefängnis saß, und sie war die Erste, die ich anrief, als ich am Morgen nach meiner Freilassung nach Skageon fuhr. Ich hatte keine Ahnung, ob ich den Mut aufbringen würde, ihr ein Treffen dort oben vorzuschlagen, und letzten Endes musste ich das gar nicht. Sie erklärte, sie würde hochkommen, sobald ich sagte, dass ich dorthin unterwegs war. Es war für uns beide an der Zeit, mit jemand anderem zusammen zu sein.
Sie ist eine liebe Frau, ruhig, warmherzig, aber unabhängig. Ich vermute, dass sie nicht meine Zukunft sein wird. Das wird sich zeigen. Aber durch sie habe ich etwas erkannt. Wenn ich mich nicht in Lorna verliebe, werde ich mich in jemand anderen verlieben. Ich werde es wieder tun. Das liegt in meiner Natur.
»Ich wollte dich fragen, ob du da oben auch geangelt hast.«
»O ja, und wie. Vom Kanu aus. Hab zwei schöne Zander gefangen. Köstlich.«
»Tatsache? Ich würde gern mal jetzt im Herbst mit dir ein Wochenende angeln.«
»Das machen wir.«
Der Kaffee ist fertig. Ich gieße uns beiden ein und setze mich an den Küchentisch aus Kirschholz mit dem welligen Rand. Dieser Tisch hat Nats ganzes Leben lang hier gestanden, und seine Flecken und Kerben erzählen die Geschichte unserer Familie. Bei vielen kann ich mich noch an ihre Entstehung erinnern - missglückte Kunstprojekte für die Schule, Wutanfälle, Töpfe, die für ungeschütztes Holz zu heiß waren und die ich tollpatschig abstellte.
Nat blickt weg, denkt an irgendwas. Ich rühre in meinem Kaffee und warte.
»Kommst du mit der vielen Arbeit zurecht?«, frage ich nach einer Weile. Nat wird auch diesen Herbst in Nearing unterrichten, aber er soll zudem im Wintersemester am Easton College einen beurlaubten Professor vertreten und ein Seminar in Rechtswissenschaft geben. Er hat sehr viel Zeit in die Vorbereitung investiert. Außerdem arbeitet er wieder an seinem Aufsatz für die Easton Law Review, in dem er das juristische Konzept von wissentlichem Verhalten mit neueren Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung vergleicht. Es
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