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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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seine Kräfte zusammen, spannte die Bauchmuskeln an und schwang die Beine in einer Art Rolle rückwärts nach oben. Erbrow verstand, was er wollte, und war ihm behilflich, indem er die rechte Schulter absenkte und im richtigen Moment die Handgelenke losließ, der Junge fand sich oben auf dem Rücken des Drachen sitzend wieder. Wie zwei Akrobaten nach jahrelangem Training. Unten am Boden erkannte Yorsch zwischen Reihen von Weinstöcken winzige Gestalten, die in alle Richtungen auseinanderliefen.
    »Nichts wie weg hier«, schrie er.
    Erbrow wendete und sie flogen in Richtung Meer, auf die andere Seite der Schattenberge. Mal ganz hoch oben über den Wolken, mal tief, die Wipfel der Bäume streifend, überquerten sie das Gebirge. Yorsch entdeckte, dass seine Bibliothek mittlerweile gänzlich von der Umwelt abgeschnitten war. Zwei Erdrutsche waren abgegangen, wahrscheinlich im vorletzten Frühling, als es zur Zeit der Schneeschmelze sehr heftige Regenfälle gegeben hatte. Der eine versperrte die Treppe, die er mit Monser und Sajra heraufgekommen war, der andere den Weg, den die beiden beim Fortgehen benutzt hatten. Die Bibliothek war jetzt nur noch für geflügelte Wesen erreichbar. Dann sah er endlich, wie sich der Horizont vor ihm auftat, jenseits des Tals, unter den Wolken, nur von Möwen gesprenkelt. Er spürte den Wind im Haar. Das Meeresrauschen mischte sich unter das Brausen des Windes und die Schreie der Möwen.
    Der Rücken des Drachen schien eigens dafür gemacht, einen Reiter tragen. Zwischen den eigentlichen Drachenflügeln gab es zwei winzige innere Flügel aus weichem, warmem Fell. Der Drache bemerkte, dass der Junge zitterte, und umschloss ihn mit seinen kleinen Flügeln. Das war der wunderbar bequemste Platz, der sich denken lässt.
    Unter ihnen lag das Tal, hingebreitet in seiner ganzen Pracht. Kühn ging Erbrow hinunter, bis er die Lärchenwipfel streifte, dann flog er wieder hinauf, er ging hinunter bis auf die Wiese einer Lichtung, dann schwang er sich wieder hoch hinauf bis in den Himmel.
    Der Schrei des Drachen hallte durch die Luft, viel tiefer und voller als das übliche Squiiiek , und vor ihnen bildete sich eine Feuersäule. Der kleine Drache flog so schnell hindurch, dass weder er noch der Junge die Hitze spürten, so als ob man rasch mit dem Finger durch die Flamme einer Kerze fährt.
    Bei jedem Schrei überzog sich der Himmel mit goldenen Flammen, um gleich darauf wieder klar und blau zu werden. Der kleine Drache ließ sich zum Meer hinuntersinken und streifte die Wogen. Yorsch fühlte die salzige Gischt auf Gesicht und Haaren. Rings um ihn liefen die Wellen hintereinanderher, flogen die Möwen, die Linie des Horizonts war durch nichts unterbrochen.
    Yorsch dachte, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt im Leben: vor und nach dem Augenblick, da man zum ersten Mal ans Meer gelangt. In einem Leben, das diesen Augenblick nicht kennt, fehlt vielleicht etwas.
    Fest schloss Erbrow zu seinem Schutz und um ihn zu wärmen, die inneren Flügel um ihn, dann tauchte er unter. Wieder träumte Yorsch, ein Fisch zu sein, das Salzwasser rings um ihn wurde die reine Lust. Sie stießen auf einen Schwarm Delfine, die sie neugierig beobachteten. Da war auch eine Delfinmutter mit ihrem Delfinkind und einen Augenblick lang dachte Yorsch voller Wehmut an seine eigene, nicht gelebte Kindheit, doch dann wandte Erbrow sich in einem Schwarm von Möwen wieder nach oben zum Himmel, und die Sehnsucht blieb in den Gischtspritzern, die sie hinter sich ließen, zurück.
    Wieder schrie der Drache, ein tiefer, kraftvoller Schrei wie ein Jagdhorn. Keine Flamme sprühte vor ihnen.
    Yorsch lachte, er hatte das fehlende Element gefunden. Um die Flammen des Drachen zu löschen, gab es etwas viel Einfacheres als Eisenhut, Fingerhut und Arnika, nämlich schlicht und einfach Meerwasser.
    Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, denn zum Himmel hinauffliegen, hinunter auf den Horizont zu und dann wieder in den Himmel hinauf, Möwen um einen herum und ein Delfinkind, das vom Wasser aus zusah und Sprünge machte, um mit einem zu spielen, das war echtes Glück. Er konnte nicht aufhören zu lachen, weil die Einsamkeit durchbrochen war, und das bedeutet echtes Glück, mehr noch als das Fliegen. Neben sich, oder um genau zu sein, unter sich, hatte er einen echten Bruder, groß und stark.
    Es war der Kreis des Horizonts, den er und Erbrow durch ihren gemeinsamen Flug durchbrochen hatten, der Kreis von Traurigkeit und Einsamkeit.
    Er

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