Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
verziehen. Anna hat mir verziehen.« Anna. Mit der Nennung ihres Namens wurden seine Gesichtszüge so weich. Er ließ den Blick zurück auf den Stein in der Jökulsá wandern, wo über dem Kreuz Fontanen von Gletscherwasser sprühten und wo immer noch der Regenbogen wie ein Gruß hing – Anna Bryndís’ Gruß.
Lies verstand.
Elías stützte sich schwer auf ihren Arm, trotzdem wirkte er erleichtert, als sie den Platz auf der Klippe verließen. Sie fand, dass er schmal geworden war. Hatten sie ihm in der Klinik nicht genug Essen gegeben? Sie erinnerte sich an seinen grandiosen Appetit und was er für Fleischstücke verdrücken konnte... das allerdings lag schon eine Weile zurück.
»Was machen wir mit dem abgebrannten Schuppen, Elías?«, versuchte sie, ein Gespräch anzuknüpfen. »Willst du ihn abreißen? Wir könnten im Frühjahr einen neuen bauen.«
Elías reagierte nicht. Ein leises Lächeln lag auf seinem Gesicht, und Anna strich ihm übers schüttere Haar. Der Klippenwind wagte nicht, hineinzufahren und sang stattdessen vom Hochland und wie es dort im Sommer gewesen war. Und Lies wagte nicht weiter, ihn aus seinen Gedanken zu holen. So führte sie ihn Schritt für Schritt durch das verharschte Heidekraut zurück nach Gunnarsstaðir, wo die Herbstsonne sich auf dem freigeschmolzenen Dach räkelte und wohin die Gischt der Jökulsá ihnen nicht folgen konnte. Trotzdem spürte sie den feinen Sprühnebel immer noch in ihrem Gesicht …
Der weiße Hengst blieb auf den Klippen zurück, mit stolz erhobenem Kopf und mit geblähten Nüstern erschnupperte er, was der Wind erzählte, und sah ihnen nach. Lies drehte sich noch einmal nach ihm um. Es fühlte sich an, als schaue er ihr ins Herz. Sie schluckte. Schnee wirbelte auf, die Büsche wiegten sich, Heide blitzte lila auf und sandte einen letzten Sommergruß. Dinge ändern sich. Sie hatte dem Hengst die Freiheit versprochen – mochte er gehen, wohin er wollte, mochte er am Hof bleiben und Heu fressen, sie würde es ihm gerne weiterhin bringen und ihm des Abends beim Rennen zuschauen. Sie wünschte sich von Herzen, dass Sörli am Hof blieb. Für Elías hingegen schien es keine Rolle zu spielen. Oder es schien in Ordnung zu sein, denn er hatte, als sie die Klippe verlie ßen, einmal kurz seine Hand auf die üppige Mähne des Pferdes gelegt.
In der Küche angekommen, sank Elías auf die Bank und zog das Hosenbein hoch. Seine Socken rochen wie gewohnt – ungewaschen und nach Schweiß, aber Lies hatte das tatsächlich vermisst. Flink räumte sie den Tisch ab und die Anrichte leer, bevor er etwas zu meckern finden würde, doch es kam kein Wort von ihm. Verwundert drehte sie sich um und sah zu ihrem Entsetzen, wie er die Verbände von seinem Bein abwickelte.
»Was tust du da??«
»Es zwängt. Sie haben mich wie eine Mumie eingewickelt«, keuchte er aus der gebückten Haltung heraus, »es zwängt mich ein, es zwängt...« Ungeschickt wickelte er die Mulllagen ab und verstreute sie auf dem Küchenboden. Lies schluckte. Was waren alte Leute doch ekelhaft.
»Willst du das nicht lieber dranlassen?«, fragte sie und drehte sich von dem Anblick weg. »Die Ärzte wissen schon, was sie da tun, und du machst es alles wieder ab, wie soll das denn heilen...«
»Es zwängt«, murmelte er, »es zwängt mich...« Das Hosenbein fiel herab, Elías atmete auf. Sorgfältig legte er die Binden zusammen. Unter dem Tisch stand ein Pappkarton, wo sie ihren Platz fanden. Er trank einen Schluck kalten Kaffee aus einer Tasse, die Lies vergessen hatte abzuräumen, dann stemmte er sich am Tisch hoch. Ohne noch eine Bemerkung über die Unordnung in der Küche zu machen, schwankte er zur Tür, wo er sich noch mal umdrehte und sie ansah.
»Danke, Mädchen«, sagte er. Und: »Ich lege mich ein bisschen hin.« Lies nickte und kramte weiter mit Geschirr und Plastikdosen. Im Topf kochte das Wasser zum Spülen. Der Ölofen bullerte vor sich hin, während sich drau ßen Windböen am Haus versuchten. In der Ferne ertönte wieder ein tiefes Brummen, jedoch ohne dass der Boden zitterte. Lies öffnete das Fenster. Das Brummen verwandelte sich in ein Rauschen, so laut, als ob die Jökulsá bei ihr vorbeischauen wollte, aber das war natürlich Unsinn. Trotzdem lauschte sie, während es ihr kalt über den Rücken lief... Was, wenn der Fluss doch einmal über die Ufer trat? Anschwoll, die Klippen erklomm? Würde er das können? Da gab es doch die Geschichte von Ásbyrgi, einem Tal im Norden, welches von
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