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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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schrie, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging. Sie sah Anna Bryndís mit ihrem schwarzen langen Haar, den dichten Brauen, dem weißen Arm mit langen, gemeinen Fingernägeln, Nägeln, die für das Spinnrad, aber nicht für die harte Landarbeit gemacht waren...
    Lies schüttelte energisch den Kopf und Anna verschwand. Der Alte zog sie hinein in seine Fantasien, so ein Unsinn! Sörli schnaubte leise. Sein glitzerndes schwarzes Auge verriet, dass er Anna Bryndís auch gehört hatte.
    »Er ist heute Morgen dreimal über den Zaun gesprungen.« Elías drehte den Kopf und sah Lies an. Was waren die Wangen so eingefallen... »Einfach gesprungen, das hat er noch nie gemacht. Hast du ihm was versprochen? Mädchen?«
    Lies wurde knallrot im Gesicht. Der Schneeberg hatte gebrummt und sie alle verrückt gemacht. »N-n-nein. Nnein, was denn?« Elías’ Augen wurden schmal. Sie sah, dass er ihr nicht glaubte. Sie hatte dem Hengst in einem furchtsamen Augenblick die Freiheit versprochen, dumm wie sie war. Und da sprang das Tier über den Zaun?
    »Elías, das ist doch Unsinn.« Ihr wurde noch nachträglich unheimlich, und sie bekam wieder Angst vor diesem Land, das so unberechenbar war und sich in einem Moment von der Katze zur Raubkatze verwandeln konnte. Schafe mit Elfenaugen, Flüsse mit Frauenstimmen und Hengste, die die Freiheit suchten. Fröstelnd legte sie die Arme um den Leib und nagte an der Unterlippe. Das Pferd stand unbewegt neben ihr und schien zu warten.
    Elías ließ die Augen nicht von ihrem Gesicht. Grau und tief, und unsäglich alt waren sie, voller Geschichten, die ein Ende finden wollten, Trauer, die ein Ende finden wollte, eine müde Seele, die schlafen wollte und nicht konnte …
    »Das ist schon richtig«, sagte er müde. »Er ist ein gutes Pferd. Ein gutes Pferd, das wirst du sehen.« Seine Daumen bewegten sich umeinander, wie Altmännerdaumen das gerne tun, sie drehten und drehten... »Der Pastor hatte Recht. Er hatte Recht.«
    »Welcher Pastor?« Sprach er wirr? Lies wurde immer besorgter, weil sie mit diesem Gerede nichts anfangen konnte – warum meckerte er nicht, wie sie es gewohnt war – damit konnte sie wenigstens umgehen …
    »Komm her. Setz dich zu mir.« Ihr Herz klopfte, als er an ihrem Ärmel zupfte.
    »Der Pastor, Gunnar Arnason, hat mal ein Gedicht geschrieben. Er hat es über mein Pferd geschrieben.«
    »Welcher Pastor?«
    »Oh, er ist lange tot, bald hundert Jahre ist er tot. Aber über mein Pferd hat er ein Gedicht verfasst, verstehst du?« Etwas steif stützte er die Ellbogen auf die Knie und starrte herunter in die Schlucht.
    »› Sörli trägt mich daunenweich‹« , begann er mit leiser Stimme, und Lies musste sich vorbeugen, um ihn zu verstehen. »› Sörli trägt mich daunenweich, / lässt an Frühling denken. / Was dem Traum, dem Liede gleich, / seine Gänge schenken. / Nehme Abschied ich von hier, / muss die Todesfurt durchreiten, / schicke, Herr, dann Sörli mir, / er soll mich nach Haus begleiten.‹«
    Lange war es still. Nur die Jökulsá rauschte vor sich hin, als kenne auch sie die wehmütigen Gedichtzeilen, die Lies Tränen in die Augen trieben, seit sie sie das erste Mal in einer alten Zeitung gelesen hatte. Auch der Wind verhielt, um nicht zu stören. Sörlis schwarzes Auge ruhte sanft auf seinem Herrn, der ihn für endlos lange Wintermonate eingesperrt gehalten hatte und der auch sonst sicher nicht zimperlich gewesen war. Lies stockte das Herz bei diesem Blick. Sörli trug ihm nichts nach. Gar nichts. Es war gut so gewesen. Alles. Sein Herr war der Herr, und alles war gut.
    »Der Fluss,« begann Elías aufs Neue und wechselte abrupt das Thema. »Der Fluss teilt gestern von heute. Er fließt anders, siehst du das?«
    Lies beugte sich vor. Das Wasser floss so dahin, wie sie es kannte. Es stolperte über den Stein, stob hoch, zersprang schillernd in der Luft und fiel nieder, um zum Meer zu fließen. Sie konnte nichts anderes daran entdecken.
    »Der Fluss fließt anders«, beharrte Elías. »Gestern ist gestern, und heute – heute ist eine neue Zeit. Ich glaube, Anna hat dich geschickt...«
    »Elías...« Lies legte die Hand auf seinen Arm, ihr wurde bange zumute. Was redete er da für ein Zeug zusammen? »Elías, lass uns zurückgehen. Es ist kalt.«
    »Anna Bryndís hat dich geschickt, Mädchen.« Die faltige Haut um seine grauen Augen zuckte, weil sie dem Wind nicht mehr gewachsen war, der hier oben auf den Klippen wehte. »Anna hat dich geschickt. Sie hat mir

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