Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
»Keine Ahnung, wieso – aber ihr seid klasse.«
Fußspuren führten vom Hof weg.
Neugierig folgte Lies den Spuren. Ein Verdacht keimte in ihr auf. Elías war, frisch aus der Klinik entlassen, wohl kaum mit den Männern ins Hochland geritten. Einen Weg jedoch hatte er immer geschafft, egal wie schwach er war. Dafür hatten seine Kräfte immer gereicht. Lies wanderte den Fußspuren nach. An der Schotterpiste vorbei. An dem seltsamen Felsbrocken, wo sie den Schneefuchs beobachtet hatte. An den Heidebüschen, wo die Schneehühner sich so gut versteckten, dass man sie kaum vor die Flinte bekam.
Das Rauschen der Jökulsá kam näher. Sie fühlte den Wind, den dieser Fluss verursachte, an ihrer Gesichtshaut – ganz dezent nur, aber man hätte sie blind hier herführen können, und sie hätte gewusst, wie weit es noch zur Klippe war... Am gegenüberliegenden Ufer hingen bereits mächtige Eiszapfen an den Felsvorsprüngen herab. Möwen hockten stumm in den Spalten und dösten in den Tag hinein. Kraft war kostbar, musste gespart werden. Leise sirrte die Atmosphäre einen Abgesang auf den isländischen Sommer.
Verzaubert blickte Lies auf das Eisreich. Es schimmerte auch ohne die Sonne geheimnisvoll und verwandelte die raue Schlucht in ein Märchen von Hans Christian Andersen. Die Schneekönigin. War da nicht etwas von einem Eissplitter gewesen, den der Junge im Herzen trug und der sein Leben vergiftete? Sie hockte sich auf einen Stein und starrte die Zapfen an.
Ob Elías einen Eissplitter im Herzen trug...?
Ein Raubvogel kreiste über ihr. Die schrillen Schreie schmerzten im Ohr. Lies sehnte sich nach der warmen Küche und einem starken Kaffee, die Strapazen des gestrigen Tages saßen ihr noch tief in den Knochen. Damit sie nicht festfror, verließ sie lieber ihren Stein und den Anblick des Schneeköniginnenpalastes und suchte weiter nach den Fußspuren im übriggebliebenen Pulverschnee, die der Wind zu verwehen drohte. Sie umrundete den letzten sanften Hügel, dann lag der Ort vor ihr, wo sie Elías immer wieder gefunden hatte – und wo er auch jetzt saß. Das weiße Pferd stand neben ihm, aufmerksam in die Schlucht herabblickend, und seine prächtige Mähne wehte leise im Wind. Lies seufzte erleichtert auf.
Zusammengesunken saß der Alte da, noch kleiner und schmaler, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die Tage im Krankenhaus hatten an ihm gezehrt, und sicher hatte sein Herz bei dem Unfall gelitten. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich bemerkbar machen sollte. Das Pferd nahm ihr den Dienst ab, denn es drehte den Kopf und brummelte leise. Lies trat näher. Sie konnte nicht anders, als ihre Hand in die dichte Mähne zu graben, und anstatt zu weichen, blieb Sörli stehen und duldete die Berührung. Doch Lies spürte deutlich, dass das Pferd nicht bei ihr stehen blieb, sondern bei Elías...
»Sie ist heute ganz friedlich«, sagte Elías da unvermittelt.
Zuerst verstand Lis nicht, wen er meinte, doch er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Fluss. »Sie ist ganz friedlich heute.« Und die Jökulsá gab sein in Stein gemei ßeltes Kreuz preis, das man nur an wenigen Tagen im Jahr sehen konnte. Ergriffen trat Lies näher.
»Heute tut sie keiner Seele was zuleide. Heute ist sie friedlich.« Seine Stimme klang brüchig, und auch die Luft war ihm knapp. Lies bemerkte eine blaue Färbung auf den faltigen Lippen. »Heute ist sie friedlich.«
Die Wolkendecke brach auf. Neckisch lugte die Sonne hervor und schaute, was es Neues gab. Sie fand den Fluss und färbte eilig die Gischt in Regenbogenfarben, damit mehr Farbe über das weiße Land käme. Sanft wölbte sich die Jökulsá über der Schlucht und über Anna Bryndís’ Grabstein. Wasser spülte schäumend auf den Fels und netzte das Kreuz, und wie ein gleißendes Tuch fiel es herab und regnete in den Fluss zurück.
»Siehst du, wie friedlich sie heute ist?«, murmelte Elías da. »Sie kann so ärgerlich werden. Sie kann so schreien, dass das Haus wackelt. Dann geht man besser in die Berge. Aber heute ist sie friedlich. Ganz friedlich...«
Anna Bryndís konnte schreien, dass das Haus wackelt. Lies sah ihn von der Seite an. Hatte der brummende Berg ihn verwirrt? Sein Gesicht war bleich, und er sah die Schatten der Vergangenheit durch die Gischt hervorblitzen, er hörte Anna Bryndís schreien – Lies hörte sie auch, die Frauenstimme, die so hingebungsvoll gurren konnte, wenn sie einen Wunsch erfüllt haben wollte, und die aber wild wie die Jökulsá keifte und
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