Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
Vom Netzwerk:
Kleider aus dem Schrank und machte sich auf die Suche nach ihren Mitbewohnern.
    Die Küche war verwaist. Sie sah aus, als hätte der Berg vor allem in der Küche gebrummt und ein Erdbeben verursacht – dabei hatten dort nur drei Männer gegessen. Lies wunderte sich, dass Elías solche Unordnung akzeptierte – wo steckte der eigentlich? Sie packte sich einen Kanten Brot in die Tasche und nahm ein Stück kaltes Fleisch aus der Schüssel, bevor sie sich auf den Weg nach draußen machte, wo über Nacht eine dicke Schicht Schnee gefallen war. Die Straße war darunter verschwunden, die Wiesen und das Dach des Stalles. Nur das Blechdach von Gunnarsstaðir reckte sich trotzig und rot hervor und erzählte jedem, wie schlecht es isoliert war und wie viel Energie man hier zum Fenster hinauswarf. Lies seufzte. Darüber musste sie mit Elías reden, es war viel zu kalt in dem Haus, wie sollte das bloß im Winter gehen, nur mit diesem Ölofen? Wollte er etwa in der Küche schlafen? Sein Bett herüberschleppen? Zuzutrauen wäre es ihm …
    Weit und breit war kein Mensch in Sicht. Das Motorrad fort, die Pferde nicht zu sehen, sicher trieben die Männer Schafsnachzügler zusammen. Sie hatte da vage von gestern Abend etwas in Erinnerung, dass etwa fünfzehn Tiere fehlten, eine ganze kleine Herde. Sie war heilfroh, dass man sie nicht geweckt hatte, es reichte erst mal mit Reiten, so langsam machte sich ihr Hintern unangenehm bemerkbar. Der Sattel schien immer noch zwischen ihren Schenkeln zu kleben, sie kam sich vor wie ein o-beiniger Fußballer. Lies seufzte. Obwohl... das Gefühl von unbändiger Freiheit, das sie da verspürt hatte... Also – das – das war so gewesen wie nichts, was sie jemals zuvor verspürt hatte. Nicht mal im Bett mit Thomas. Nicht mal mit ihm. Und Thomas war schon ziemlich gut gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, vor Freude jemals so tief und vollständig Luft geholt zu haben wie hier.
    Ein bisschen schämte sie sich, eingestehen zu müssen, dass der Ritt auf diesem Pferd besser gewesen war. Wie albern. Durfte echt keiner hören. »Pffft.« Stimmte aber nun mal. Verlegen kickte sie Schnee durch die Gegend, dass es staubte, und knabberte an dem Brotkanten herum. Thomas. Wer war noch mal Thomas gewesen? Mein Gott, lag das alles weit zurück. Viertausend Kilometer und sechs Monate. Erst sechs Monate?? Sinnend starrte sie vor sich hin. Ein Jahr war locker verabredet gewesen, wobei man ihr offen gelassen hatte, ob sie vor dem Winter abreisen wollte oder ob sie bleiben würde. Der Winter war gekommen. Der Gedanke, Gunnarsstaðir verlassen zu sollen, widerstrebte ihr irgendwie …
    Die Schafe hinter der Umzäunung scharrten blökend und mümmelnd im Schnee herum und suchten nach Gras. Eine kleine Weile ergötzte sie sich an dem riesigen Haufen hin und her wuselnder brauner und heller Leiber, flockige Wollberge, soweit das Auge reichte. Manchen war der geschorene Pelz schon so weit heruntergewachsen, dass er wieder wie ein viereckiger Schrank auf vier Beinen aussah und lustig auf und ab hüpfte, wenn sein Träger sich schneller bewegte. Kein Schaf, das sie je daheim in Deutschland gesehen hatte, sah aus wie diese urigen Tiere. Und keins war so wie diese Tiere, auf eine merkwürdige Weise schlau, naiv und – anders. Sie hatten etwas von Fabelwesen, diese isländischen Schafe mit ihren langgezogenen Köpfen, den wassergrünen Augen, die durch alles hindurchblicken konnten, und den bildschönen gekringelten Hörnern.
    Sie hatte in Erinnerung, dass man Pferche aufbaute und die Schafe dann nach Zucht- und Schlachttieren trennte. Auch Elías verkaufte jedes Jahr eine Anzahl Tiere an den Schlachthof. Der Gedanke stimmte sie traurig, doch war es ihr andererseits immer noch kaum möglich, die heimgekehrten Schafe zu unterscheiden. Die Alten sahen alle gleich aus, und die Kleinen waren so gewachsen, dass nichts mehr an die putzigen Lämmer vom Mai erinnerte. Das half ein wenig. Gierig sog sie den Schafgeruch ein und zupfte einen Wollflaum, den wohl ein Ausbrecher hinterlassen haben musste, aus dem Zaun. Sie liebte das Gefühl dieser fettigen Wolle an den Fingern, obwohl sie so stark nach Schaf stank und man sich kaum vorstellen konnte, dass man sie eines Tages als Socke oder Pullover trug … Komisch.
    »Komisch, oder?«, fragte sie die Schafe, die am Zaun standen. Unverwandt starrten sie sie an, eisig grüne Blicke, Köpfe wie aus Holz, dumm und aber trotzdem irgendwie …
    »Ihr seid schon klasse, ihr«, grinste Lies.

Weitere Kostenlose Bücher