Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
klar wie Glas, und erste Sterne erschienen am Himmel. Ja, es gab Sterne in Island. Ein Klingen lag in der Luft, wie vorgestern, als sie im Elfenhaus gesessen hatte – ein Klingen, eine leise, fremdartige Melodie aus hohen Tönen, die ihren Kopf umgab und sie verzauberte, und sie musste lauschen, lauschen – lauschen …
Und dann stand sie auf. Atmete tief durch und legte die Jacke ab. Der Wind blies sanft durch ihren Pullover. Sie streifte ihn ab. Das Klingen wurde stärker. Es kroch ihre nackten Arme hoch – sie zog das T-Shirt aus. Der Wind hielt erstaunt inne, als sie auch die Hose auszog, ihre Kleider an sich raffte und einen Schritt auf die Klippe zu machte. Komm nur , murmelte die Jökulsá, gib’s mir, ich nehm alles. Alles nehm ich mit dahin, und du machst es neu. So war es schon immer. Die Kleider dem Fluss zu übergeben war nicht schwer. Versonnen sah sie ihnen nach, sah sie in den Wogen verschwinden, Richtung Meer.
Es war kalt und auch wieder nicht. Sie fror und auch wieder nicht. Elías’ Geist saß auf dem Stein und nickte. Gestern ist gestern, und heute ist eine neue Zeit. Dann flog er davon, zu Anna und Palli und zu Ísak. Seine lebenslange Bußzeit war endgültig vorüber. Anna hatte ihm verziehen, und die Jökulsá würde nur noch alte Geschichten erzählen, wenn man genau hinhörte. Ihre Geheimnisse hatte sie alle preisgegeben. Leer und stumm zog sie ihrer Wege, brachte Wasser vom Gletscher zum Meer, wie man es von einem Fluss erwartete. Der Stein mit dem Kreuz, der erst am Morgen ein letztes Rendezvous mit dem Regenbogen gehabt hatte, war Vergangenheit, lag vielleicht schon in den Tiefen des Nordmeeres, und niemand würde mehr nach ihm suchen. Lies konnte sich kaum noch an ihn erinnern.
Sie ließ sich vom Wind sanft umspülen und gab sich wiegend dem Hochlandlied hin, das in ihren Kopf drang und Gedanken und Trauer auslöschte. Gestern ist gestern, und heute ist eine neue Zeit. Irgendwo lachte eine glockenklare Frauenstimme. Genau! Weil es dann doch zu kalt wurde, hüllte sie sich in die Pferdedecke und drehte sich einmal um sich selbst. Heute ist eine neue Zeit.
Auf den Hügeln stand eine Gestalt. Still stand sie da, bange abwartend, und der Wind zupfte nur schüchtern an ihren Kleidern. Lies lächelte befreit.
Es gab viele Gründe, auf Gunnarsstaðir zu bleiben. Einer davon stand dort auf dem Hügel.
Dank
Die zitierten Gedichte entstammen dem Band »Sörli – Geschichten und Gedichte um Rasse, Reiter und Ritte auf Island« von Úlfur Friðriksson.
Herzlichen Dank an Birgt Zimmermann für die Hilfe bei den isländischen Übersetzungen.
Mein besonderer Dank und Gruß geht nach Island an Sonja Valeska Krebs und Bragi Björgvinsson für ihre Gastfreundschaft und fachliche Beratung in Sachen ›Schaf‹. Ihr Hof ist ein Ort der Magie. www.eiriksstadir.com
1. Auflage
Originalausgabe Mai 2007 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagfoto: Frans Lemmens/ Getty Images
Lektorat: Eva Schmeling
Herstellung: Heidrun Nawrot
eISBN : 978-3-641-02960-9
www.blanvalet-verlag.de
www.randomhouse.de
Weitere Kostenlose Bücher