Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
vorwärts. Erst am Schafgatter sprach er weiter – offenbar war das wohl in Island so. Nur nicht zu viel von allem. Nicht zu viel Sonne, nicht zu viel Grün, nicht zu viel Essen. Bloß nicht zu viele Worte. Sie schluckte. Von anderem hingegen gab es viel. Kaffee. Steine. Wind. Schweigen.
»Die Leute sagen...«, Jói hielt das Gatter für sie offen, »die Leute sagen, es hätte da einen Vetter gegeben, oben in den Westfjorden. Mit dem habe er sich heillos zerstritten. Bestimmt ist der auch schon tot. Und sonst…« Er zuckte mit den Schultern und schloss das Gatter hinter ihnen wieder sorgfältig.
»Ich dachte immer, jeder in Island hat Familie«, sprach Lies, mutig geworden, weiter. So hatte Silke es ihr erklärt – irgendwie waren sie hier alle miteinander verwandt. Keine Kunst bei gerade mal dreihunderttausend Einwohnern. Sollte man meinen.
»Elías hat keine. Ausnahmen bestätigen die Regel«, grinste Jói. »Ich weiß nicht, was mit seiner Familie ist.«
»Hat er mich dann für den Hof bestellt?« Die Tatsache, dass sie nicht wirklich willkommen gewesen war, ließ Lies keine Ruhe.
»Eine Dame aus dem Krankenhaus hat das arrangiert. Er war krank, musst du wissen.«
»Krank?«
»Genau.«
Doch damit war das Gespräch gerade, wo es interessant wurde, leider beendet, denn sie hatten den Stall erreicht. Lies hatte das Gebäude zunächst gar nicht als solches erkannt, weil es in den Hang hineingebaut war und auf der Seite, von der sie sich genähert hatten, komplett aus Grassoden gefertigt und entsprechend niedrig war. Wie grausilberne Brotscheiben lagen die Grassoden aufeinander, fein säuberlich und ohne Lücken gestapelt, und aus manchen Zwischenräumen wuchsen Grasbüschel heraus. Nach hinten streckte sich das Gebäude in die Länge und war in moderner Bauweise aus Wellblech zusammengesetzt. Die niedrige Tür war nur angelehnt, Jói stieß sie auf. Vorsichtig stieg Lies hinter ihm die Stufe hinab, froh darüber, dem eisigen Wind draußen entkommen zu können. War es wirklich schon April?
Heftiger Stallgeruch schlug ihr entgegen, doch empfand sie den beim zweiten Riechen als gar nicht mehr so unangenehm. Sie wunderte sich, Viehställe hatte sie anders in Erinnerung. Vor allem aber war es wärmer als draußen, ein Grund mehr, schnell hereinzukommen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Im Halbdunkel erkannte sie Dutzende von Bretterverschlägen, in denen sich weiße Wollknäuel bewegten, hier und da blökte eins, die meisten jedoch waren mit Kauen beschäftigt. Elías war nicht zu sehen.
»Typisch Elías«, grinste Jói, »immer im Dunkeln, Petroleum kostet ja Geld. Eines Tages wird er sich noch den Hals hier brechen.« Scherzhaft rief er etwas ins Dämmerlicht hinein, da tauchte der Alte nicht weit von ihnen aus einem Verschlag auf, richtete sich mühsam auf und grunzte zurück.
»Wir dürfen das Licht anmachen«, sagte Jói leise. Er schien sich auszukennen, denn er tastete sich in eine Ecke, wo eine riesige Petroleumleuchte stand, und hantierte mit Streichhölzern. Funzeliges Licht flackerte auf. Die Lampe hängte er an einen Haken in der Mitte des Stalles. Ein Schaf blökte ärgerlich wegen der Störung auf, ein leises metallisch klingendes Meckern. Woanders hüpfte etwas Weißes über Holzplanken und verschwand unter der Mutter. Lämmer. Es gab Lämmer hier! Lies’ Laune hob sich ein wenig, ihre Miene wurde weicher. Kleine süße Lämmer mit schmalen Kindergesichtern und zierlichen rosafarbenen Mäulern; gleich neben der Tür sah sie eines, im übernächsten Verschlag sogar zwei …
Die Männer tauschten einige Worte, Lies trat näher, um zu sehen, was Elías in dem Verschlag tat. Er sah sie, winkte sie nachdrücklich herbei, bückte sich – und einen Moment später klatschte er ihr eine eklig glibbrige Masse in die Hände, während er mit schmutzigem Finger auf eine Tonne am Ende des Ganges zeigte. Konsterniert sah Lies auf ihre Hände. Der kalte Glibber tropfte zäh durch die Finger, er roch durchdringend nach altem Blut und aufgetautem Fleisch... Reflexartig warf sie das Zeug von sich, rannte aus dem Stall und erbrach sich draußen gleich neben der Tür ins spärliche graue Gras. War es Einbildung, oder hörte sie drinnen den Alten verächtlich lachen?
Erschöpft hockte sie sich gegen die Stallwand und versuchte, die verschmierten Hände am Gras abzuwischen. Der Wind kühlte die erhitzte Stirn, Schneeflocken tanzten an ihr vorbei. Der saure Geschmack im Mund verursachte neues Würgen. Sie
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