Der letzte Tag der Unschuld
zurückkehren würde. Er hatte nur einen Koffer dabei, vollgepackt mit seinen wenigen Kleidungsstücken und Dutzenden Papierstreifen, die mit handgeschriebenen Erklärungen von Wörtern, die er nicht gekannt hatte, bekritzelt waren. Vor der Abreise brachte er Eduardo das Exemplar von David Copperfield zurück, das er noch nicht ausgelesen hatte. Eduardo bestand darauf, er solle es als Abschiedsgeschenk behalten, aber Paulo lehnte ab.
Am Sonntag fuhr Eduardo mit seinem Vater im Zug nach Barra do Piraí, wo sie in einen Zug nach São Paulo stiegen. Dort nahmen sie einen weiteren Zug nach Taubaté, in die Stadt, in die Rodolfo Massaranni per Telegramm mit sofortiger Wirkung versetzt worden war. Rosangela Massaranni blieb nur so lange zurück, bis sie den Umzug in die Wege geleitet hatte, dann kam auch sie nachgereist.
In den ersten Wochen und Monaten schrieben Eduardo und Paulo einander häufig. Eduardos Briefe waren lang und traurig, minuziöse Beschreibungen der Kälte, mit der ihn die Klassenkameraden in der neuen Schule empfangen hatten, des Desinteresses der Lehrer und der Schäbigkeit der Plätze und Straßen, auf denen merkwürdige Bäume wuchsen, der Hässlichkeit der Gebäude der Stadt, in der sie nun wohnten. Er schrieb, wie sehr er ihre gemeinsamen Fahrradausflüge und das Krächzen der Papageien im Bambushain am See vermisste. Paulos Briefe berichteten in kurzen Sätzen vom aufregenden Leben in Méier und Cascadura, den Stadtteilen von Rio, in denen er sich an den Wochenenden herumtrieb, und darüber, wie er sich über das Geschrei der fliegenden Händler in den Zügen amüsierte, mit denen er von Bento Ribeiro, wo er wohnte, nach Marechal Hermes zu seiner neuen Schule fuhr.
Eduardo schrieb auch immer wieder an das Altersheim, doch von Ubiratan kam keine Antwort. Schließlich kamen im September alle Briefe auf einmal zurück, mit einer kurzen Notiz versehen, dass im Altersheim niemand dieses Namens wohne.
Einige Monate später schrieb ihm Paulo in einem mit Ausrufezeichen gespickten Brief, dass er in einer Frau gewesen sei und dass es sich großartig angefühlt habe. Eduardo schrieb zurück, er sei ebenfalls in einer Frau gewesen und es habe sich ebenfalls großartig angefühlt. Gleich darauf bereute er seine Lüge, aber da war der Brief schon fort. Im nächsten Brief wollte er die Wahrheit beichten, aber schließlich antwortete er nur ausweichend auf die Fragen, die ihm Paulo zu dieser ersten Frau gestellt hatte, die es gar nicht gab. Und wieder schämte er sich dafür, seinem Freund eine Erfahrung vorgeschwindelt zu haben, die er erst fünf Jahre später in São Paulo mit einer Studienkollegin machen sollte, für die es, wie für ihn, das erste Mal war und die sich ebenso ungeschickt anstellte wie er.
Ob es nun mit diesem ersten Vertrauensbruch begann oder irgendwann später: Im Nachhinein konnte keiner von beiden mehr sagen, wann und warum die Briefe allmählich immer kürzer und spärlicher wurden. Bis sie sich eines Tages, ohne es zu merken, überhaupt nicht mehr schrieben.
16
Brasilien, 12. April 1961
Der magere blasse Junge lag auf der Wiese, die den See wie ein wogender grüner Rahmen umgab. Als er die Augen aufschlug, sah er seinen dunkelhäutigen Freund mit den Segelohren vor sich stehen. Er tropfte.
»Glaubst du das, was der Russe erzählt hat?«
»Der von heute Morgen? Der erste Mann im Weltall?«
»Ja, der. Dass er in hundertacht Minuten die Erde umkreist hat. Glaubst du das?«
»Ich denke schon.«
»Hättest du Lust dazu?«
»Ja. Wir machen das auch. Spätestens in zehn Jahren sind Weltraumreisen das Normalste von der Welt.«
»Ja, wir könnten Astronauten werden. Das ist besser wie Cowboy.«
» Als Cowboy«, verbesserte ihn der magere Junge.
»Auch wenn wir Brasilianer sind.«
»Bald kann jeder Astronaut werden. Aber ich glaube, ich werde lieber Ingenieur.«
»Und ich Wissenschaftler. Da kann ich Medikamente erfinden, um unheilbare Krankheiten zu heilen.«
»Alle unheilbaren Krankheiten!«, fügte der Blasse hinzu.
»Alle!«, stimmte sein Freund begeistert zu. »Alle!«
Sie lachten. Es war ein schöner, lauer Tag.
ENDE
(18. Juni 2009)
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