Der letzte Tag der Unschuld
Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich noch immer ihr klebriges Blut an meinen Fingern spüren. Denn es hat damals an meinen Fingern geklebt, so wie es an ihren blonden Haaren klebte, an der hohen Stirn, den gewölbten Augenbrauen und den schwarzen Wimpern, an den Lidern, dem Gesicht, dem Hals, den Armen, der zerfetzten weißen Bluse und den abgerissenen Knöpfen, an dem zerschnittenen BH und ihrer rechten Brust, der Warze der rechten Brust.
Den stechenden Geruch hatte ich nie zuvor wahrgenommen, ein Geruch, der sich von nun an unter den Duft aller Frauen mischen würde, mit denen ich schlief, der den Duft der anderen Frauen überlagern und mich immer wieder zu ihr zurückbringen würde. Eine Mischung aus süßlichem Parfüm, aufgeschlitztem Fleisch, Schweiß, Blut und – bis heute habe ich keinen treffenderen Vergleich gefunden – Salz. Der Geruch, den man in der Nähe des Meeres wahrnimmt. Der sich einem auf die Haut legt. Nicht wie Salzkörner, sondern wie der unsichtbare, duftende Salzstaub an feuchten Tagen.
Aber damals kannte ich auch das Meer noch nicht, wusste weder, wie es riecht, noch wie es aussieht, und da war also der Geruch dieses Körpers, der vor uns im Schlamm lag, nackt, ich hatte noch nie eine nackte Frau gesehen und noch nie aus der Nähe den Geruch einer nackten Frau wahrgenommen, ich meine, sie war nicht völlig nackt, aber da war diese Brust mit der großen Brustwarze und … Ihre Beine waren gespreizt, der Rock nach oben gerutscht, und ich konnte das schwarze Haarbüschel am oberen Ende der Schenkel erkennen, da, wo die langen Schenkel zusammentrafen, und von dieser Stelle, nein, von ihrem ganzen Körper ging der Geruch nach Frau aus, vermischt mit dem Blutgeruch, und ich glaube, sie hatte sich eingekotet und auch eingenässt, heute weiß ich, dass das uns allen in dem Augenblick passiert, in dem das Leben den Körper verlässt und die Muskeln erschlaffen und der Sphinkter sich öffnet und … Das war auch so ein Wort, das ich noch nie gehört hatte. Nicht einmal gelesen. Sphinkter … Ich war zwölf Jahre alt, und solche Wörter kamen bei mir zu Hause nicht vor. Solche Wörter kannten wir nicht.
Sie lag dort, tot. So gut wie nackt.
Ich wusste, dass sie tot war. Wir wussten es beide. Ihre Haut war kalt, die Haut am Arm, wo wir sie zuerst angefasst hatten. Und ihr Gesicht war so … bleich. War sie wirklich bleich? Ja, das war sie. Und ihr Mund stand offen. Halb offen. Als hätte sie gerade lächeln wollen. An einer Stelle blitzten ihre großen, blendend weißen Zähne zwischen den vollen Lippen hervor … Waren die Lippen geschwollen? War sie auf den Mund geschlagen worden? Hatte sie blaue Flecken im Gesicht? Ja. Aber auf ihren Lippen war Blut … Ich glaube, ich habe ihre Lippen berührt. Ich weiß es nicht mehr. Doch: Ich habe sie berührt. Weich. Rot. Vom Blut. Blut oder Lippenstift? Von Blut und Lippenstift. Und voller Schlamm. Der war wohl hochgespritzt, als sie ausrutschte. Oder war sie mit dem Gesicht in Gras und Morast gelandet? Als sich ihr Absatz im Schlamm verfing und abbrach und sie halb durch den Morast und das feuchte Gras flog, ein letzter Flug voller Schrecken und Traurigkeit, war es so? Ein Flug. Lautlos. Endlos. Da hatte sie vielleicht begriffen, dass ihre Flucht zu Ende war. Vielleicht hatte sie sich zur Wehr gesetzt, vielleicht hatte sie willenlos alles mit sich geschehen lassen und in der frischen Herbstluft mit ihrem letzten Blick den blauen Himmel erfasst und den Schrei eines Vogels und den Atem des Mörders gehört, während die Klinge wieder und wieder in ihr Fleisch drang.
Weder er noch ich hätten sagen können, wie viele Messerstiche es waren. Die zahllosen Verletzungen ihrer Haut erinnerten mich an die Wundmale der Christusfigur im Hauptschiff der Kirche, die die Arme am Kreuz so ausbreitete wie sie hier im Schlamm unter dem wolkenlosen Himmel an jenem Morgen im April.
Selbst heute, hier in dieser fremden Stadt, in der ich von Zeit zu Zeit wohne, selbst jetzt passiert es mir noch, wenn ich abgelenkt bin, wenn ich aus der U-Bahn komme und um die Ecke biege und eines der hübschen Häuser vor mir sehe, bei deren Anblick man glauben könnte, dass es gut und geordnet auf der Welt zugeht, wenn ich ein Café verlasse, in dem ich Zigaretten gekauft habe, und das Wechselgeld in die Jackentasche stecke und nach dem Feuerzeug suche – bei alledem spüre ich manchmal unvermittelt auf meinem Gesicht den kalten Wind, der an jenem Apriltag plötzlich
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