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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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    Es umarmt Dich brüderlich Dein Freund
    Eduardo
    Er hielt den Brief lange in der Hand. Las ihn wieder und wieder. Rechnete nach. Eduardo hatte ihn 1985 geschrieben, in dem Jahr, in dem Tancredo Neves nach einundzwanzig Jahren Militärdiktatur zum ersten zivilen Präsidenten Brasiliens gewählt worden war. Im Todesjahr von Tancredo Neves, dessen Tod nur drei Monate nach der Wahl die Hoffnungen auf tiefgreifende Veränderungen im Land zunichtegemacht hatte. Im Jahr, in dem Michail Gorbatschow Generalsekretär der Sowjetunion geworden war. Im Jahr, in dem der Zerfall der Sowjetunion und der mit ihr verbundenen Utopien begonnen hatte. Geschichtslektionen. Ubiratan hätte sich gefreut, wenn er hätte sehen können, was er alles gelernt hatte.
    Er legte den Brief auf seinen übervollen Schreibtisch, auf den Deckel des Scanners neben dem Computer. Der Umschlag mit dem brasilianischen Absender war, nachdem er ihn hastig aufgerissen hatte, irgendwo zwischen dem Drucker und dem Papierstapel gelandet, der niemals kleiner zu werden schien.
    Er zog die maschinengeschriebenen Seiten daraus hervor.
    Sie waren von 1 bis 176 nummeriert.
    Es waren eng betippte Kohlepapier-Durchschläge auf Zeitungsdruckpapier. Die Schrift war verblichen und an manchen Stellen mit einem dicken schwarzen Stift durchgestrichen. An den Rändern fanden sich hier und da mit Bleistift und Kugelschreiber hingekritzelte und manchmal wieder ausradierte Anmerkungen.
    Das letzte Blatt aus weißem Papier enthielt einen einzigen Satz, der in einem anderen Schrifttyp getippt worden war. Darunter stand in Klammern eine handschriftliche Notiz.
    »Die Toten bleiben nicht dort, wo wir sie begraben.«
    (herausfinden, wo ich das gelesen habe)
    Paulo ging zum Sessel am Fenster, ließ sich darin nieder und begann zu lesen.

15
    20. April 1961
und die darauffolgenden Monate
    Paulo war immer noch wütend, und das wurde auch im Unterricht nicht besser. Er war eingeschlossen gewesen, bis ihn der Gorilla hatte gehen lassen, nachdem er ununterbrochen gegen die Tür des Kämmerchens getreten hatte. Ubiratan war schon über alle Berge. Fluchend verließ er den Raum. Die Frauen lachten. Die Puffmutter lachte. Der Gorilla lachte. Eduardo errötete. Paulo fluchte weiter. Und fluchend ging er im strömenden Regen nach Hause, unbekümmert darum, wie spät es war oder wie sein Vater reagieren würde, wenn er um diese Uhrzeit und völlig durchnässt nach Hause kam.
    Sein Vater reagierte gar nicht. Er saß plaudernd mit Antonio am Wohnzimmertisch, die beiden sahen ihn kurz an, dann redeten sie weiter.
    Er schlief wütend ein und erwachte wütend. Das Bett seines Bruders war unberührt, sein Vater hatte keinen Kaffee gekocht: Sicher hatten sie die Nacht im Hotel Wizoreck verbracht. Sie würden erfahren, dass er mit Eduardo und dem Alten dort gewesen war. Und wenn schon. Es war ihm egal. Wenn sie ihn fragen würden, was er, Eduardo und der Alte im Puff gemacht hatten, würde er nichts verraten. Wenn sie überhaupt fragten.
    Der Alte: In seinen Gedanken nannte er Ubiratan nur noch so. Den Alten. Den Gauner. Den Verräter.
    In der Schule angekommen, wechselte er kaum ein Wort mit Eduardo, der genauso schweigsam und düster war wie er. Er wollte nicht reden. Mit niemandem. Er fühlte sich hintergangen und gedemütigt. Und das machte ihn wütend. Sollte es irgendeinem Lehrer einfallen, ihm eine Frage zu stellen, würde er keine Antwort geben, selbst wenn er sie wusste. Wenn der Lehrer dann mit ihm schimpfen würde, würde er mit einem Kraftausdruck antworten. Mitten im Unterricht, vor allen anderen. Und wenn er dann zum Rektor geschickt würde, würde er sagen, dass sie ihn gleich rauswerfen konnten.
    Nach Schulschluss stürmte er davon, auch wenn er keine Lust hatte, nach Hause zu gehen. Er wusste nicht, wohin. Er wollte nur weg, weg von hier, weg von überall.
    Eduardo lief ihm nach, bis er ihn eingeholt hatte.
    »Wieso hast du’s denn so eilig?«
    »Ist doch scheißegal!«
    »Ganz ruhig, Paulo!«
    »Kann dir doch scheißegal sein, weil ich scheiße bin! Alle lachen mich aus! Alle trampeln auf mir rum! Keiner respektiert mich! Mein Vater nicht und mein Bruder auch nicht, die Lehrer und die anderen in der Klasse respektieren mich nicht, niemand in der Schule. Zu Hause respektiert mich auch keiner. Keiner. Nirgendwo. Noch

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