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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Augen.
    »Ich habe Sie nicht verstanden.«
    »Ich hätte Ihren Vater gerne wiedergesehen. Sehr gern. Was für ein Jammer, dass ich erst herausgefunden habe, wo er wohnt, als es zu spät war.«
    »Es tut mir sehr leid.«
    »Sagen Sie Ihrem Bruder … und Ihrer Schwester … sagen Sie Paulo und …«
    »Júlia.«
    »Sagen Sie Paulo und Júlia, dass ein Freund Ihres Vaters angerufen hat und sie ganz herzlich grüßen lässt.«
    »Ich richte es ihnen aus.«
    »Er war der beste Freund, den ich je hatte. Ich habe viel von ihm gelernt. Solidarität vor allem. Sogar meine Grammatikfehler hat Eduardo korrigiert. Und wenn ich ein Wort nicht kannte, hat er es im Wörterbuch nachgeschlagen und die Bedeutung für mich auf einem Papierstreifen notiert. Von allen Kindern, die ich kannte, war Eduardo der Einzige, der ein Wörterbuch hatte. Ich habe die Papierstreifen im Kleiderschrank versteckt, damit mein Vater und mein Bruder sie nicht finden und zerreißen konnten. Als wir weggezogen sind, habe ich sie alle mitgenommen.«
    »Ich verstehe.«
    »In einer Zeit, in der ich niemanden hatte, war er mein bester Freund. Er hat mir mein erstes Tarzanbuch geliehen. Der erste Dickensroman, den ich gelesen habe, war auch von ihm. David Copperfield .«
    »Ich erinnere mich, dass mein Vater dieses Buch immer wieder gelesen hat. Es war eine alte Ausgabe. Ich glaube, mit einem blauen Einband.«
    »Gelb. Gelb mit schwarzer Schrift. Der Titel war rot.«
    »Das stimmt. Ja, so sah es aus.«
    »Haben Sie die Ausgabe noch?«
    »Paulo hat sie. Es war eine der wenigen Hinterlassenschaften meines Vaters, die er mit in die USA genommen hat. Das Buch und einige Fotos, ein paar alte Schallplatten und, soweit ich weiß, die alte Arbeitstasche meines Großvaters. Er war Eisenbahner.«
    »Ich weiß. Er hieß Rodolfo.«
    »Richtig. Jetzt ist es Ihnen doch noch eingefallen.«
    »Und Ihre Großmutter hieß Rosangela.«
    »So heißt sie immer noch. Sie lebt in Rio, im Stadtteil Tijuca, bei einer ebenfalls verwitweten Schwägerin. Sie ist sehr alt, und der Tod meines Vaters hat sie schwer getroffen. Uns alle. Am meisten Paulo. Vielleicht, weil er erst so spät zu uns gezogen ist und weniger Zeit mit ihm hatte als wir. Die beiden haben viel geredet, ganze Nächte lang. Paulo war der einzige Mensch, in dessen Gesellschaft mein Vater auftaute.«
    Wieder breitete sich Stille zwischen den beiden aus.
    Jemand klopfte an die Zimmertür, um Bescheid zu sagen, dass das Taxi da war, und zu fragen, ob Gepäck heruntergebracht werden musste.
    »Einen Moment noch!«, rief er nach draußen. Dann wandte er sich wieder an Fábio: »Ich bin gleich wieder da.«
    Er öffnete die Tür, zeigte auf den größeren Koffer, drückte dem Pagen ein Trinkgeld in die Hand und bedankte sich. Der Junge ging davon, den schwarzen Koffer am Band hinter sich her ziehend.
    Paulo setzte sich aufs Bett. Er zögerte. Er wollte sich nicht verabschieden. Er wusste, dass, wenn er jetzt auflegte, die Verbindung mit seiner Vergangenheit abreißen würde, die ihm am meisten bedeutete. Aber dann nahm er den Hörer auf, hielt ihn ans Ohr und sagte, wobei ihm wieder die Augen feucht wurden: »Ich muss gehen. Einen herzlichen Gruß an Sie und Ihre Geschwister. Wenn Sie mit Ihrer Großmutter sprechen, sagen Sie, dass ich angerufen habe, dass ich auf der Suche nach Eduardo war. Vielleicht erinnert sie sich noch an mich.«
    »Und was soll ich sagen, wer angerufen hat?«
    »Entschuldigen Sie, ich hatte ganz vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Paulo.«
    »Paulo was?«
    »Paulo Roberto, wie Ihr Bruder.«
    »Paulo Roberto … und weiter?«
    »Antunes.«
    »Paulo Roberto Antunes?«
    »Ja. Danke. Auf Wiederhören.«
    Er wollte gerade auflegen, als er Eduardos Sohn rufen hörte.
    »Warten Sie! Sie heißen Paulo Roberto Antunes?«
    »Ja.«
    »Einen Moment, bitte. Ich bin gleich zurück.«
    »Mein Taxi wartet. Ich muss los.«
    »Nur noch eine Sekunde! Bitte bleiben Sie dran!«
    Er hörte, wie das Telefon hastig auf der harten Unterlage abgelegt wurde. Ferne, unbestimmte Geräusche. Noch weiter weg Autohupen. Das Martinshorn eines Krankenwagens. Eine Minute. Anderthalb Minuten. Zwei Minuten. Zwei Minuten und zehn Sekunden. Fünfzehn. Zwanzig. Zweieinhalb Minuten. Er konnte nicht länger warten. Zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden. Zwei Minuten und fünfzig Sekunden. Zwei Minuten und …
    »Entschuldigen Sie!« Fábios Stimme war wieder da. »Ich habe nach einem bestimmten Umschlag gesucht. Ich wollte nur

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