Der letzte Tag der Unschuld
Pille nehmen, sobald das Flugzeug abgehoben hatte, und er würde bitten, weder zum Abendessen noch zum Frühstück geweckt zu werden. Für alle Fälle wollte er aber die C D s und Disketten mit den Informationen griffbereit haben, die er noch studieren und analysieren musste, um den Abschlussbericht schreiben zu können. Um diese Jahreszeit gab es über dem Atlantik so heftige Turbulenzen, dass er trotz des Lexotan ab und zu aufwachen würde.
Er rief bei der Hotelrezeption an und bestellte ein Funktaxi für in fünfundvierzig Minuten. Bis zu seinem Flug war noch viel Zeit, und wahrscheinlich würde er viel zu früh am Flughafen Guarulhos ankommen, doch er wollte nicht riskieren, im chaotischen Verkehr der Stadt stecken zu bleiben, und vielleicht konnte er so die langen Warteschlangen bei den Passkontrollen der Bundespolizei vermeiden. Wenn er wirklich lange warten musste, würde er ein Buch oder eine Zeitschrift kaufen; mit etwas Glück konnte er vielleicht El País vom Vortag oder eine mehr oder weniger aktuelle Ausgabe der Financial Times ergattern.
Er stand auf, ging in das winzige Bad, nahm den Rasierapparat, trat in die enge Duschkabine und drehte den Wasserhahn auf. Der kalte Wasserstrahl erfrischte ihn in der Feuchtigkeit und Hitze des brasilianischen Sommers, den er nicht mehr gewöhnt war, mehr als jede Klimaanlage. In Dili war es schlimmer: Klimaanlagen waren in Osttimor ein seltener Luxus.
Danach zog er sich an und packte in den Handkoffer, was noch fehlte. Dann sah er auf die Uhr. Bis zur Ankunft des Taxis blieb ihm noch eine halbe Stunde. Er schaltete den Fernseher ein und suchte CNN International. Vor einer Karte von Afghanistan erklärte ein Militärstratege, was die amerikanischen Truppenbewegungen bei Kandahar bewirken sollten. Die blonde Fernsehmoderatorin, die mit sorgfältig einstudiertem Ernst hinter ihrem Tisch aus Acryl und Resopal saß, stellte eine scheinbar tiefgründige Frage zu einem kürzlich in Bagdad erfolgten Anschlag und den möglichen Folgen des offensichtlichen Widerstands von Saddams schiitischen Unterstützern für die Sicherheit der in Basra stationierten britischen Truppen. Noch bevor der Spezialist zu seiner Antwort ansetzte, schaltete er den Fernseher aus. Er griff zum Telefon und wählte zum zigsten Mal die Nummer, die er im Telefonbuch angestrichen hatte.
Er wartete und lauschte dem Klingeln am anderen Ende der Leitung. Einmal. Kurze Pause. Zweimal. Wieder eine kurze Pause. Beim sechsten Klingeln gab er auf und wollte gerade auflegen, als jemand abnahm.
»Hallo?«, sagte eine Stimme. »Hallo!«
Er schnappte nach Luft. Es war die Stimme einer Frau.
»Hallo! Wer ist da?«
Eine junge Frau.
»Hallo«, antwortete er, aufgeregter, als er gedacht hätte.
»Wer ist da?«
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich so mir nichts, dir nichts bei Ihnen anrufe. Sie kennen mich nicht.«
Er sprach langsam, ohne Akzent, aber wie ein Ausländer, der versucht, so genau wie möglich die richtigen Wörter einer Sprache auszusprechen, die ihm nicht mehr vertraut ist.
»Wer spricht denn da?«
»Ich habe im Telefonbuch nach dem Namen von …«
»Was wollen Sie?«
»Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt …«
»Mit wem möchten Sie sprechen?«
»Ich bin seit vier Tagen in São Paulo und habe jeden Tag angerufen.«
»Wer ist da?«
»Aber es ist nie jemand drangegangen. Und Sie haben keinen Anrufbeantworter, deshalb konnte ich keine Nachricht hinterlassen.«
»Wer sind Sie?«
»Ich lebe nicht hier. Und ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Es war nur so eine Eingebung, dass ich im Telefonbuch nach seinem Namen gesucht habe.«
»Wen meinen Sie? Mit wem möchten Sie sprechen?«
»Als ich vor zehn Jahren in Rio war, habe ich das Gleiche gemacht. In Porto Alegre habe ich es auch versucht. Und in Recife. In Brasília, Manaus, Belo Horizonte. Überall, wo ich hinfliege, suche ich nach seinem Namen. Bisher habe ich ihn nie gefunden. Ich hatte eigentlich schon aufgegeben …«
»Wer sind Sie?«
»… bis ich vor vier Tagen hier im Hotel das Telefonbuch gesehen habe. Ich habe es aufgeschlagen und gesucht. Da habe ich ihn gefunden. Ich denke, er ist es. Ich hoffe es.«
»Was wollen Sie?«
»Der Name stimmt. Da dachte ich, das könnte er sein.«
»Wer spricht denn da?«
»Entschuldigung, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin ein wenig … aufgewühlt. Bitte verzeihen Sie. Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich ihn noch finden würde. Wir haben …
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