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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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mühsam auf die Lichter zu.
    Der Regen wurde stärker. Seine Kleidung klebte ihm am Leib. Ihm war kalt. Dann hörte er seine eigene Stimme und verstand, dass er laut vor sich hin redete.
    Nun, da er Genaueres über die Herkunft und Lebensgeschichte der blonden Frau wusste, die am See erstochen worden war, verstand er auch, welches Spiel sie gespielt hatte, um sich gegen ihre Beherrscher zur Wehr zu setzen: Aparecida hatte überlebt, weil sie sich geweigert hatte, Anitas Existenz zu führen. Sie hatte überlebt, indem sie sich von sich selbst verabschiedet und im Schweigen verbarrikadiert hatte, sie war undurchdringlich geworden, indem sie sich jedes Bedürfnis versagte, hatte Macht erlangt durch ihre Passivität allem gegenüber, was man ihr antat, und Freiheit durch ihre Gleichgültigkeit ihrem eigenen Schicksal gegenüber. Allerdings, so dachte er weiter, würde er nie erfahren, warum ihre Besitzer die blonde Puppe ermordet hatten oder hatten ermorden lassen, mit der sie ohne Reue all die Wünsche ausleben konnten, die sie ihren respektablen Ehefrauen gegenüber nicht einmal zu äußern gewagt hätten.
    Er holperte durch ein außergewöhnlich großes Schlagloch und hüpfte im Sattel auf und nieder. Die Lichterreihe war näher gekommen. Schon konnte er Fenster, Veranden, Türen, Wände und Dächer ausmachen.
    Unter dem hartnäckigen, immer kälter werdenden Regen erreichte er das, was sich Dorf nannte, aber kaum mehr war als ein erbärmliches Kaff, eine ungeordnete Ansammlung flacher Häuser für arme Leute, über ein Stück Land verstreut, das der Regen in eine einzige Schlammpfütze verwandelt hatte.
    Es war niemand zu sehen, den er nach Renatos Haus hätte fragen können, und so radelte er bis zum ersten Haus, um dort anzuklopfen und zu fragen.
    Noch bevor er angekommen war, hörte er einen Schuss. Klar und scharf zerriss der Knall die Nacht und ließ ihn schaudern.
    Er drehte das Fahrrad in die Richtung, aus der er den Schuss vernommen zu haben meinte. Vor ihm lag eine Reihe winziger Häuser, die meisten mit nackten Backsteinwänden, ununterscheidbar.
    Ein weiterer Schuss erklang.
    Und noch einer.
    Er wandte sich um.
    Die gleichen Häuser mit den gleichen Dächern, Wänden, Türen und verschlammten Vorgärten.
    Instinktiv ließ er das Fahrrad fallen und rannte, so schnell ihn seine lahmen alten Beine trugen, zu einem Häuschen hinüber, auf dessen Veranda eine Lampe brannte. Als er näher kam, sah er hinter dem Haus einen amerikanischen Wagen, grün mit weißem Verdeck. Ein Stück weiter vorn war ein zweiter Wagen geparkt. Ubiratan blieb stehen. Er kannte diese langgestreckte Karosserie, die hohen Heckflossen und die großen Scheinwerfer: das Auto des Bürgermeisters.
    Die Schlange hat zugebissen, dachte er und lief wieder los.
    Ein vierter Schuss ließ ihn innehalten. Und wieder ein Knall, gefolgt von einem kurzen, schrillen Schrei wie von einer Kinderstimme. Dann war es still.
    Ubiratan ging auf das Haus zu, die Stufe hinauf, über die Veranda. Nun war er an der Tür. Sie war angelehnt. Langsam drückte er sie auf. Das Licht einer Glühbirne erleuchtete das Innere des Hauses und Renatos nackten Körper, der auf einem Bett lag, zwei Kugeln in der Brust, eine im Hals und eine in der Hand. Blut strömte aus den Wunden und färbte das weiße Laken rot, mit dem Isabel sich zu bedecken versuchte, das aber nicht ausreichte, um ihre kleinen Brüste zu verhüllen. Sie stöhnte. Ihr Arm war angeschossen.
    »Wo ist er?«, fragte Ubiratan hastig. »Wo ist der Bürgermeister?«
    Isabel schien ihn nicht zu verstehen. Er wiederholte:
    »Wohin ist der Bürgermeister verschwunden? Wo ist Ihr Mann?«
    Isabel, den Blick starr auf das hintere Ende des Zimmers gerichtet, begann zu zittern. Sie versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Laut hervor. Ubiratan folgte ihrem Blick.
    Eine Gestalt trat aus dem Schatten hervor, in dem sie sich bisher verborgen gehalten hatte. Sie hielt einen Revolver in der Hand. Der Lavendelduft drang an Ubiratans Nase, noch bevor er ihr verzerrtes Gesicht und die kleinen dunklen, vom Weinen verschwollenen Augen gesehen hatte.
    »Cecília!«, rief er aus und tat einen Schritt auf sie zu.
    Sie richtete den Revolver auf ihn.
    »Stehen bleiben!«
    Ubiratan gehorchte.
    »Keinen Schritt näher!«
    »Ganz ruhig, Cecília.«
    »Bleiben Sie mir vom Leib!«
    »Ich hatte nicht vor …«
    »Eine Kugel hab ich noch!«
    »Kind, ich …«
    »Halten Sie den Mund!«
    Isabel streckte ihre blutige Hand

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