Der letzte Tag: Roman (German Edition)
typisch für Menschen, die gern über Geist, Körper und Bewusstsein redeten und ihre Erkenntnisse mit einem Fremden teilen wollten. Ufo-Experten und Spiritisten waren genauso.
Aber obwohl Solomons Augen jetzt sehr hart wirkten, schien ein vager Ausdruck von Ironie in dem schmalen, gebräunten Gesicht des Chefs der Revelation Productions den Ernst des Themas zu relativieren. Vielleicht wollte er sich auch über Kyle lustig machen. Vielleicht betrachtete er ja alles mit Ironie, außer sich selbst natürlich. Das ständige dünne Lächeln wirkte gesellig und belustigt zugleich. Bei solchen Leuten war das schwer einzuschätzen – den Erfolgreichen, den Firmeninhabern, den Führungspersönlichkeiten oder den Bevollmächtigten, mit denen er als Filmemacher zu tun hatte.
»Ja«, sagte Kyle und kramte in seinen Erinnerungen nach allen Informationen, die er über Schwester Katherine und den Tempel
der Letzten Tage aufgeschnappt hatte. Es waren nur Bruchstücke, die hastig aufgenommenen Polaroid-Fotos ähnelten: sonnengebleichte Schnappschüsse eines ungepflegten bärtigen Mannes in Handschellen, der von einem Streifenwagen der Polizei in ein Amtsgebäude geführt wurde; Luftaufnahmen, auf denen eine Art Farm zu sehen war … in Kalifornien? Schnipsel von irgendwelchen Berichten über den Kult, von dem er vor langer Zeit mal im Fernsehen etwas mitbekommen hatte. War das eine Dokumentation gewesen oder eine Meldung in den Nachrichten?
Er war sich nicht sicher, woher seine Eindrücke stammten, aber es waren kleine Einzelteile, die sich zusammenfügten und ein düsteres Bild von etwas Kultischem ergaben. Immerhin wusste er noch, dass diese Gruppe damals als sehr gefährlich und irgendwie cool galt. Eine amerikanische Indie-Rockband aus den Achtzigern hatte sich Sister Katherine genannt, ein Jahrzehnt später gab eine Industrial-Band sich den Namen Temple of the Last Days. Und natürlich erinnerte er sich daran, dass das Bild von Schwester Katherine Kultcharakter gehabt hatte. Er hatte es sehr oft gesehen, ohne sich große Gedanken über die Hintergründe zu machen. Es war im Andy-Warhol-Stil auf T-Shirts gedruckt worden, genau wie die Porträts von Jim Jones und Charles Manson, Michael Myers und Jason Voorhees. Ein breites, arg stilisiertes Gesicht mit beeindruckender Ausstrahlungskraft, mit der violetten Kopfbedeckung einer Nonne und zum Himmel gerichteten Augen. Die heilige Maria des Kosmetikzeitalters. Die Anführerin eines teuflischen Kults, über die man sich auf diese Weise lustig machen konnte, aus Gründen nostalgischer Sensationslust, eine perfekte Provokation, benutzt von gelangweilten, rebellisch angehauchten Jugendlichen. Eine Frau, die umgebracht wurde von … oder hatte sie zusammen mit ihren Anhängern Selbstmord begangen? Er konnte sich nicht mehr erinnern, aber er wusste noch, dass die Angehörigen des Tempels Menschen getötet hatten. Oder hatten sie sich gegenseitig ermordet? War da
nicht ein Filmstar abgeschlachtet worden? Nein, das war die »Familie« von Charles Manson gewesen. Waren die zur gleichen Zeit aktiv gewesen, war der Tempel nicht ein Todeskult von Hippies in den Sechzigern gewesen? Oder doch erst in den Siebzigern?
»Diese Sekte«, sagte er schließlich, bemüht, nicht allzu unwissend dreinzublicken. Aber es war schon zu spät. Er starrte begriffsstutzig vor sich hin und zuckte angesichts seiner unklaren Erinnerungen ratlos mit den Schultern.
Max schien seine Unwissenheit zu genießen. Jetzt konnte er ihm alles erklären: »Es war eine Organisation, deren Anfänge hier in London zu finden sind, im Jahr 1967.«
»In London?«
»Ja, hier in dieser Stadt. Das ist allerdings nur wenigen bekannt. Aber Schwester Katherine war Engländerin. Ihr bürgerlicher Name war Hermione Tirrill. Sie wurde in Kent geboren. Stammt von den Überbleibseln einer alten wohlhabenden Familie ab. Ihre Mutter hatte sogar einen Adelstitel. Sie war eine Baroness, und sie achtete darauf, dass die kleine Katherine sich von Kindheit an für etwas Besseres hielt. Gleiches galt für das Internat, in dem sie bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr erzogen wurde. Das war der Zeitpunkt, als ihr Vater pleiteging und die Familie im Stich ließ. Katherine und ihre Mutter wurden von einem Tag auf den anderen in schmachvolle Armut gestoßen. Sie mussten ihr ländliches Anwesen verlassen und landeten in einer Sozialwohnung in Margate. Katherine musste sich ihre Schuluniform im Secondhandladen besorgen und hauste dort inmitten all
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