Der letzte Tag: Roman (German Edition)
nachdem Schwester Katherines ›Nacht des Aufstiegs‹ stattgefunden hatte. Der Tempel der Letzten Tage hatte die Mine im Jahr 1972 in Besitz genommen.
Neun Personen waren tot, unter ihnen Schwester Katherine. Sechs waren noch am Leben. Fünf davon waren Kinder. Der berüchtigte
Manuel Gomez, auch bekannt als Bruder Belial, war der sechste. Er war Katherines Günstling und ihr Henker gewesen. Bruder Belial war der einzige Erwachsene, der diese Nacht überlebt hatte. Sie haben sicher von ihm gehört? Er wurde auf der Krankenstation des Untersuchungsgefängnisses in Florence getötet, noch bevor er vor Gericht aussagen konnte. Von unbekannten Insassen.
Weitere fünf Sektenmitglieder, die kurz vor der Nacht des Aufstiegs in der Mine gewesen waren, wurden niemals gefunden. Man nimmt an, dass sie ebenfalls umgebracht und in der Wüste verscharrt wurden.
Dieser Aspekt der Sekte hat ihre Geschichtsschreiber besonders fasziniert, ebenso ihre Fans und die Geschäftemacher. Der kriminelle Aspekt. Die Polizei glaubte, dass die Morde ihre Ursache in Rivalitäten innerhalb der Gruppe hatten. Drogenpsychosen und eine Art Selbstmordpakt spielen bei ihrer Theorie auch eine gewisse Rolle. Die Zeitungen von damals schrieben, es habe ein satanistisches Ritual mit Menschenopfern gegeben, zu denen auch die Tötung der Anführerin gehörte. Sie wurde übrigens, das nur nebenbei, geköpft. Diese Version der Ereignisse hat sich auch in den, wie Sie es ausdrücken, ›Medien des Massenmarktes‹ durchgesetzt. Was braucht man denn noch, um als Filmemacher und Dokumentarist loszulegen? Das ist eine großartige blutrünstige Geschichte mit allem, was dazugehört. Aber …«
Max schob Kyle über den Tisch hinweg einen Stapel DVDs zu, außerdem ein altes Taschenbuch, das so oft gelesen worden war, dass man die Schrift auf dem Rücken nicht mehr entziffern konnte. »Die vier Dokumentarfilme über die Sekte und die drei Spielfilme sind einfach fürchterlich. Was kann man auch erwarten. Sie sind grauenhaft. Richtig übel. Von den vielen Büchern zum Thema ist nur ein einziges wert, es zu lesen: Die letzten Tage von Irvine Levine. Es wurde als Fiktion abgetan und ist schon lange vergriffen. Aber die Polizisten aus Yuma und Phoenix haben
zumindest angedeutet, dass Levines Reportage sehr genaue Details bezüglich der Nacht des Aufstiegs liefert, also jenem Abend, an dem die Morde stattfanden.«
Kyle räusperte sich. »Das ist vor ziemlich langer Zeit passiert. Wenn keine neuen Beweise gefunden wurden, warum sollte man dann einen neuen Film machen? Wollen Sie damit sagen, es kommt vor allem darauf an, es richtig zu machen? Oder steht irgendein Jahrestag an, sollen nostalgische Bedürfnisse bedient werden …«
Max hob seine schmale Hand und unterbrach ihn. »Nein. Es gibt da einen Aspekt der Geschichte, der niemals beschrieben wurde. Vergessen Sie die Morde. Vergessen Sie die polizeilichen Untersuchungen. Die Sensationslust der Medien. Dieser Weg wurde oft genug beschritten. Aber da ist noch etwas anderes von diesem Tempel der Letzten Tage übrig geblieben, paranormale Elemente im Fort’schen Sinne, davon künden Zeugnisse in der mündlichen Überlieferung und in der alternativen Geschichtsschreibung. Und hier kommen Sie ins Spiel. Sie müssen wissen, dass es Menschen gibt, die davon überzeugt sind, dass die mystischen und okkulten Rituale dieser Sekte Auswirkungen gehabt haben. Die daran glauben, dass Schwester Katherine etwas Außergewöhnliches bewirkt hat. Und dass ihr willentlich herbeigeführter Tod – das sollten Sie nicht falsch verstehen, sie wurde in dieser Nacht auf eigenen Befehl von ihrem loyalsten Anhänger hingerichtet – Teil dieses Mysteriums ist, von dem bis heute unerklärliche Phänomene ausgehen, deren Ursprünge hier in London zu suchen sind. Der Kult ist noch immer lebendig, könnte man sagen, für diejenigen unter uns, die dafür empfänglich sind. Das ist eine Story, an die kein normaler Filmemacher sich heranwagt, es sei denn, um sie zu widerlegen. Falls es ihn überhaupt interessiert.
Sie sehen also, es gibt noch andere Überlebende. Nicht unbedingt solche, die jener Nacht beiwohnten, aber solche, die zur Organisation gehörten. Menschen, die schon Jahre vor ihrem Ende
geflohen sind. Und andere, die wenige Monate vor der Auflösung das Weite suchten. Das sind Menschen, denen es nie gelungen ist, das hinter sich zu lassen, was sie im Dienst von Schwester Katherine erlebt haben. Und wirklich einzigartig ist, dass
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