Der letzte Tag: Roman (German Edition)
lange E-Mail an ihren Sohn in Toronto geschrieben hatte, auf eine Art, als wäre es der letzte Akt von Kommunikation in ihrem Leben, hatte sie einen kleinen geschwärzten Schuh auf dem Küchenfußboden gefunden. So klein, dass er einem Kind gepasst hätte. Hart wie Holz und genäht wie ein Mokassin und sehr alt. Furchtbar alt. Von einem Fuß gerutscht, den sie sich lieber nicht vorstellen wollte. Ein Klümpchen Ruß war abgefallen, als sie den Schuh mit dem Prospekt des Pizza-Service aufhob, um ihn in den Müll zu werfen.
He, Mädel, wir sind wieder da.
Bumm, bumm, bumm, bumm. Richtig heftig jetzt in mindestens einem Zimmer im Obergeschoss. Wahrscheinlich in ihrem Schlafzimmer. Die Frau erinnerte sich an eine Party in einem Raum über dem hellhörigen Motelzimmer, das sie vor langer
Zeit einmal in Los Angeles gemietet hatte, auch damals auf der Flucht. Diese verhaltenen Fußtritte, schrillen Schreie, lautes Lachen von Fremden, das keinen anderen Zweck hatte, als sie wach zu halten und ihr zu verdeutlichen, wie sehr sie den Kontakt zum normalen Leben verloren hatte. Aber im oberen Stockwerk dieses Hauses, ihrer letzten Zuflucht, fand keine Party statt, an der sie teilnehmen konnte.
Ganz bestimmt waren sie in ihrem Schlafzimmer. Denn dieses Pochen, das vom Bettzeug gedämpft wurde, verwandelte sich in ein lautes Wummern, als etwas auf ihrem Bett herumzutoben begann. Ihre persönlichen Dinge wurden vom Nachtschränkchen gefegt.
Die Frau bemühte sich, ihre trockene Zunge vom Gaumen zu lösen, und versuchte zu schlucken. Verzweifelt ballte sie die Faust und stützte sich damit an der Wand ab, bis der Schwindel sich gelegt hatte. Dann drehte sie sich um und machte die Haustür zu. Schottete sich von der Außenwelt ab, schloss sich ein. Mit ihnen.
Ein weiterer ihrer ungebetenen Gäste versuchte, sich vom Küchenfußboden zu erheben. Sie konnte ihn vom Flur aus hinter der geschlossenen Tür hören. Diese Unruhe hatte sie auch in den letzten beiden Wohnungen vernommen, die sie vor dieser hier gemietet hatte; aus ihnen war sie mitten in der Nacht geflohen. Es waren Töne, die in ihrem Kopf das Bild eines Antilopenkalbs wachriefen, das sie einmal im Fernsehen gesehen hatte, wie es mit gebrochenen Beinen im Maul eines Krokodils zappelte und verzweifelt versuchte, vom Wasser wegzukommen.
Während sie sich noch fragte, ob sie diesmal auf allen vieren angekrochen kamen oder sich aufrecht näherten, hob sie den Revolver, ging los und blieb am Fuß der Treppe stehen. Sie stützte ihre Führungshand mit der anderen ab, so wie sie es auf dem Schießstand gelernt hatte, und richtete den Lauf nach oben. Bereit.
Die Frau bemühte sich, ihre Gedanken zu beruhigen, und es gelang ihr schließlich, sich an ihren Sohn zu erinnern und an
jene Nacht, als sie ihn, gegen die Brust gedrückt, durch die kalte Wüste getragen hatte. Das war schon lange her, aber sie erinnerte sich noch genau an alles, als wäre es erst gestern gewesen, an sein Schluchzen, seine Wärme, seine kleine Hand, die sich in ihr Haar klammerte. Ihr Haar fiel ihr damals bis zur Hüfte und bedeckte das Kind wie ein Wasserfall. Der Junge wusste immer, wer seine Mama war, egal was sie taten, um das zu verhindern, er irrte sich nie, er wusste es immer. Und sie holte ihren Jungen dort raus.
Trotz der vielen Tränen lächelte sie. Sog die Luft ein. »Komm doch, du Miststück!«, schrie sie diesem Ding entgegen, das jetzt teilweise sichtbar wurde, als düstere Andeutung einer ungelenken Bewegung dort oben am Ende der Treppe.
Dunkelheit breitete sich über den Stufen aus. Die brachten sie immer mit sich aus jenen lichtfernen Orten zwischen hier und irgendwo anders. Der Eindringling folgte ihrer Aufforderung und stieg herab zu ihr, umgeben von einem schützenden Schleier, kroch auf allen vieren, das Gesicht nach oben gerichtet.
Noch bevor das Ding die kurze Strecke bis zu ihr überwunden hatte, schob die Frau sich den kalten Lauf des Revolvers in den Mund. Als es sich so anfühlte, als wäre die Mündung irgendwo hinter ihrem Auge, drückte sie ab.
»Eine epische Schilderung inhumaner Wildheit.«
Irvine Levine, Die Letzten Tage
Bloomsbury, London
30. Mai 2011
»Haben Sie schon mal von Schwester Katherine und dem Tempel der Letzten Tage gehört?«
Das Lächeln verschwand aus Maximillian Solomons Gesicht, als er diese Frage stellte – als Zeichen, dass er es ernst meinte, oder um zu prüfen, ob Kyle für die nachfolgende Enthüllung gerüstet war. Kyle fand das
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