Der letzte Tiger
»Hast du Truongs Schwester schon angerufen?«
Ly nickte. Truong hatte weder Frau noch Kinder gehabt. Seine Schwester, die in der Nähe von Saigon lebte, war die einzige Verwandte. »Gleich nachdem ich’s erfahren habe«, sagte er. »Ich wollte nicht, dass es ihr irgend so ein Typ aus der Verwaltung sagt.« Tränen traten Ly in die Augen, und er stützte die Stirn auf seine geballte Faust, so dass Minh es nicht sehen konnte. Er rief sich sein letztes Telefonat mit Truong ins Gedächtnis. Worüber hatte Truong bloß mit ihm sprechen wollen? Es musste wichtig gewesen sein, sonst hätte er ihn doch nicht angerufen. Hätte er doch nur dieses verfluchte mit tinh ausfallen lassen.
Minh stellte Ly ein Bier auf den Tisch. Mit dem Hemdsärmel trocknete Ly seine Augen, hob den Kopf und trank das Glas in einem Zug aus. »Irgendwas stimmt da nicht«, sagte er. »Er hat mir selbst noch gesagt, dass er keinen Strom in der Wohnung hat.«
»Vielleicht hat er ihn wieder angestellt?«, sagte Minh und versuchte, den nächsten Sandsack hochzuhieven. Voll Wasser gesogen, war er sogar für einen kräftigen Mann wie Minh zu schwer.
»Blödsinn«, sagte Ly. »Er hat im Erdgeschoss gewohnt. Mit Wasser in der Wohnung stellt er doch nicht den Strom an.«
Minh gab nur ein Brummen von sich.
»Verdammt, das war kein Unfall«, sagte Ly so laut, dass die anderen Gäste sich nach ihm umdrehten.
»Mann, Ly«, fuhr Minh ihn an und ließ den Sandsack mit einem Ächzen fallen. »Es reicht. Nicht jeder Tod ist gleich ein Mordfall.«
Dieser vielleicht schon, dachte Ly, trat seine Vinataba aus und zerknüllte die Packung mitsamt den Zigaretten. Sie schmeckten bitter und kratzten im Hals. Er hatte mal wieder eine dieser chinesischen Fälschungen erwischt. Man munkelte, sie würden impotent machen. Irgendwann würden die Chinesen sie noch alle ausrotten.
Minhs Frau kam die Treppe herunter. Auf ihren Unterarmen balancierte sie geschickt mehrere Teller. Bis im Erdgeschoss aufgeräumt war, kochte sie oben in der Wohnung.
»Hallo, Ly, du hast sicher Hunger«, sagte sie mit einem Lächeln und stellte die Teller vor ihn auf den Tisch. In Reismehl panierte Rippchen, Rinderhackspieße mit Zitronengras und in Knoblauch gedünsteten Pak-Choi-Kohl. Aber Ly konnte jetzt beim besten Willen nichts essen. Sobald Minhs Frau wieder die Treppe hinauf verschwunden war, schüttelte er entschuldigend den Kopf und sagte: »Ich hätte lieber noch ein Bier.«
»Warte.« Minh verschwand in der Küche. Ly hörte, wie er Kisten verschob. Irgendetwas fiel scheppernd auf den Boden. Als er schließlich zurückkam, hielt er eine bauchige Schnapsflasche in der Hand. In der bernsteinfarbenen Flüssigkeit lag eine aufgerollte Kobra zusammen mit einer Ginsengwurzel und kleinen roten Bocksdorn-Beeren. »Die trinken wir jetzt. Auf Truong.«
*
Am Morgen wurde Ly von einem schrillen Fiepen aus dem Stadtteilradio geweckt. Er zog sich die Decke über die Ohren, konnte aber die blechern klingende Stimme, die auf das Fiepen folgte, trotzdem noch hören. »… ab zwölf Uhr wird wegen Bauarbeiten das Wasser in folgenden Straßen abgestellt: Au-Trieu, Phu-Doan …« Nach der Durchsage lief ein altes revolutionäres Lied. Sicherlich war es von Kassette abgespielt, so wie es leierte. Ly schwor sich, bald auf den Laternenmast vor dem Haus zu klettern und diesen verfluchten kommunalen Lautsprecher zu zerstören. Anderenorts hatten entnervte Anwohner das längst getan.
Er hielt noch eine Weile die Augen geschlossen, bis er sich schließlich aus dem Bett quälte. Sein Kopf schmerzte, und er war froh, dass Thuy und die Kinder schon weg waren. Er warf den Wasserkocher an und kippte doppelt so viel Kaffeepulver in den Aluminiumfilter wie sonst. So richtig half auch das nicht.
Er wollte sich gerade einen zweiten Kaffee kochen, als ein Notruf von der Zentrale bei ihm einging. Er solle sofort zum Literaturtempel fahren, auf die Seite der Nguyen-Thai-Hoc-Straße. Es gäbe einen Toten.
*
Der Himmel war blau, und die Sonne brannte auf seinem Kopf. Mindestens ein Dutzend Mal musste Ly den Kickstarter seiner alten roten Vespa treten, bis der Motor endlich aufheulte. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
Er nahm den Weg durch die Altstadt. Keine gute Entscheidung, wie er schnell merkte. In der Hang-Gai mussteer Slalom um ganze Busladungen von Touristen fahren, die wie verschreckte Hühner über die Straße liefen. Er versuchte es mit Hupen. Doch das machte es nur noch schlimmer. In der
Weitere Kostenlose Bücher