Der letzte Tiger
den Kopf hin und her. Schließlich sagte er: »Ich könnte mich umhören. Der Preis liegt bei etwa zwanzig Millionen Dong für hundert Gramm. Minimum.«
Ly schluckte. Das waren fast tausend Dollar. Von dem Geld konnten sie zwei Monate gut leben. Inklusive der hohen Schulgebühren für die beiden Kinder. Und mit hundert Gramm wäre es ja wohl auch kaum getan.
»Alles, was billiger verkauft wird, ist eine Fälschung«, fügte Doktor Song hinzu.
Ly fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Das konnten sie sich momentan wirklich nicht leisten. Von seinem Staatsgehalt sowieso nicht, aber auch nicht von dem besseren Einkommen, das seine Frau Thuy als Reiseleiterin verdiente. »Das … ich werde darüber nachdenken«, sagte Ly ausweichend.
Doktor Song nickte. »Dann würde ich Ihnen erst mal wieder etwas Pflanzliches mischen.« Er trat an den Apothekerschrank hinter seinem Tresen und zog mehrere Schubladen heraus. Mit einer kleinen Schaufel fuhr er in die Kistchen und häufte verschiedene Kräuter und Pulver auf eine Tafelwaage. Dann kippte er alles auf ein Blatt Zeitungspapier, faltete es zu einem Päckchen und verschnürte es fest. »Das soll Ihre Mutter in klaren Reisschnaps einlegen und mindestens drei Wochen ziehen lassen.« Doktor Song schrieb die Anweisung zusätzlich auf einen Zettel, den er an das Päckchen heftete. Unter dem Tresen holte er noch eine kleine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit hervor. »Bis dahin soll sie diesen Medizinschnaps hier trinken.Jeden Tag ein kleines Glas.« Und mit einem Lachen schob er hinterher: »Und nicht mehr! Richten Sie ihr das mit bestem Gruß von mir aus.«
*
Auf dem Weg von Doktor Song ins Präsidium ging Ly zu Hause vorbei, um seiner Mutter die Medizin zu bringen und sich trockene Kleidung zu holen. Er hatte gleich ein mit tinh im Präsidium und wollte nicht so durchnässt, wie er war, in der Sitzung auftauchen. Und das alte Stadthaus, in dem sie wohnten, lag sowieso auf dem Weg. Er schob das Ladengitter zur Seite und stieg über die Sandsäcke, die auch hier seit Tagen lagen. Seine Mutter saß vor dem Ahnenaltar unten im Erdgeschoss. Die Räucherstäbchen glimmten. Jeden Tag zündete sie welche an, und Ly wusste, dass sie dabei in Gedanken bei seinem ältesten Bruder war. Er war 1979 im Krieg gegen die Chinesen gefallen, mit gerade einmal neunzehn Jahren, von einem Granattreffer im Unterstand verschüttet und erstickt.
Ly betrachtete seine Mutter. Ihre wässrigen Augen waren auf den aufsteigenden Rauch gerichtet. Sie war alt geworden. Es würde nicht mehr lange dauern, und auch sie wäre Ahne. Er schämte sich, nicht die Tigerknochenpaste für sie bestellt zu haben, und legte das Päckchen mit der Kräutermischung und die kleine Flasche auf ihr Bett. Er würde ihr später die Anweisungen des Arztes erklären. Jetzt ließ er sie mit ihren Erinnerungen alleine.
Fünf Minuten später trat er wieder auf die Straße. Trockene Wechselkleidung hatte er in eine Plastiktüte gestopftund ging in Richtung Präsidium. Der Regen hatte noch immer nicht nachgelassen. Als sein Handy klingelte, rannte er in eine der Hallen der Quoc-Su-Pagode, an der er gerade vorbeiging, und stellte sich unter.
»Hallo?«
»Truong hier.«
»Hey, was ist denn in dich gefahren, dass du mich mal anrufst?«, fragte Ly. Sonst war er es doch immer, der sich bei Truong meldete. Er konnte sich nicht erinnern, dass es je anders gewesen wäre. Sie kannten sich bereits seit der Grundschulzeit, und Truong war immer schon ein Eigenbrötler gewesen. Trotzdem hatte sich über all die Jahre, die sie sich nun kannten, eine Freundschaft entwickelt, die Ly wichtig war, und es störte ihn nicht weiter, dass sein Freund sich nie von sich aus meldete. Umso mehr wunderte er sich allerdings jetzt über seinen Anruf. »Ist etwas passiert?«
»Können wir uns sehen?«, fragte Truong.
»Sicher. Wie wär’s morgen zum Mittagessen?«
»Hm, geht’s nicht heute noch?«
»Worum geht’s denn?«, fragte Ly.
»Ich … das erklär ich dir, wenn wir uns sehen. Nicht am Telefon.«
Truong klang nervös, und Ly hätte sich jetzt gerne sofort mit ihm getroffen. Aber er konnte nicht schon wieder eine Sitzung ausfallen lassen. Sein Chef hatte ihn bereits verwarnt. »Ich muss noch in ein mit tinh . Danach komme ich bei dir vorbei.«
»Ruf mich an, wenn du fertig bist. Dann komme ich lieber zu euch rüber. Meine Wohnung steht voll Wasser.« Truong wohnte im Erdgeschoss in einem der baufälligensozialistischen Wohnblocks, die
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