Der letzte Tiger
ein Regal, eine Matte auf dem Boden. Alles wies auf Truongs zurückgezogenes Leben hin. Ly fand keine Fotos, keine kleinen Andenken, wie sie sonst in Regalen herumstanden, und auch keine Briefe. Er nahm die Bücher herunter, die auf einem der Regalbretter standen, und blätterte eines nach dem anderen durch. Sie waren zerlesen und rochen muffig, was bei der Luftfeuchtigkeit nicht ausblieb.
Die Bücher behandelten alle die Tierwelt Vietnams. Tiere waren immer Truongs Leidenschaft gewesen. Das war schon während der Schulzeit so gewesen. Ly erinnerte sich, wie Truong früher manchmal tagelang von zu Hause verschwunden war. Anfangs hatte seine Tante, bei der er und seine Schwester aufwuchsen, ihn noch gesucht, bald ließ sie es aber sein. Sie wusste, dass er wieder auftauchen würde. Mal mit einer Kiste Waldschildkröten, dann wieder mit bunten Schmetterlingen, schillernden Käfern, Loris-Äffchen oder Eidechsen. Auf dem Flachdach des Hauses, in dem sie damals wohnten, baute er kleine Käfige, in denen er die Tiere eine Weile hielt. Dann saß er tagelang da oben und war für kein Fußballspiel zu haben. Er sagte immer, er müsse erst seine Tiere »verstehen«. Bis aufeine einzige Schildkröte, die er noch Jahre später hatte, hat er, soweit Ly wusste, immer alle Tiere wieder frei gelassen.
Während Ly seinen Gedanken nachhing, fiel ihm ein braunes Papier ins Auge, das hinter dem Regal hervorschaute. Er zog daran. Es war ein Umschlag mit einer Landkarte und mehreren Fotos. Die Landkarte war eine veraltete Karte vom Norden Vietnams. Hanoi war noch in seinen alten Grenzen eingezeichnet. Mittlerweile war die Stadtfläche dreimal so groß. Truong hatte einige Orte mit rotem Marker eingekreist: Hai Phong, die Hafenstadt östlich von Hanoi. Mong Cai, eine Stadt oben an der chinesischen Grenze. Und mehrere kleine Orte in den Bergregionen, die Ly aber alle nichts sagten.
Er blätterte die Fotos durch. Auf allen waren Tiere zu sehen: Zibetkatzen, Stachelschweine, Binturongs, Makaken, Gibbons, Schuppentiere, ein Bär. Sie waren durch Gitterstäbe fotografiert. Vielleicht waren sie im Hanoier Zoo aufgenommen, dachte Ly. Truong hatte dort gearbeitet. Anfangs als Tierpfleger, später war er in der Hierarchie aufgestiegen. Was genau er zuletzt gemacht hatte, wusste Ly allerdings nicht, was ihn, wenn er jetzt darüber nachdachte, selbst überraschte.
Er setzte sich auf die Bettkante und klickte das Handy durch, das er in der Nachttischschublade gefunden hatte. Außer Telefonnummern war darin nichts gespeichert. Die letzte Nummer, die Truong angerufen hatte, war Lys gewesen.
Irgendwann stand er auf, verließ die Wohnung und setzte sich an den Teestand im Hof. Die Verkäuferin hatte dieKannen mit den Tees in einen dick mit Kissen ausgestopften Holzkasten gestellt, so dass sie warm blieben.
»Einen Jasmin-Tee«, sagte Ly. »Und Vinataba. «
» Vinataba habe ich nicht. Die will doch keiner mehr.« Die Frau stand auf und griff nach einer der Tüten, die an Nägeln hinter ihr am Baum hingen. » Thang Long können Sie haben.« Sie zog eine kanariengelbe Packung mit dem Flaggenturm der Hanoier Zitadelle aus der Tüte. Ly mochte die Thang Long nicht besonders, aber sie waren doch besser als diese chinesischen Kopien der Vinataba , die er sonst so oft erwischte.
»Sie waren in Truongs Wohnung?«, fragte die Frau. In ihrem Gesichtsausdruck mischten sich Neugier und Misstrauen.
»Kannten Sie ihn?«, fragte Ly.
»Ich wohne hier. Ich kenne jeden.«
Ly nickte. Natürlich. In diesen alten sozialistischen Wohnblocks funktionierte die gegenseitige Überwachung noch.
»Es ist furchtbar, was passiert ist«, sagte sie und reichte Ly den Tee. »Dass die Stadt dieses Stromnetz nicht einmal erneuert. Und überhaupt, was tun die schon für uns …« Sie begann über die Regierung zu schimpfen, die Korruption und den neuen Reichtum, von dem sie wie so viele nichts abbekam. Ly hörte nur mit einem Ohr zu. Ein pummeliges Mädchen von etwa acht Jahren hüpfte auf einem Bein auf den Teestand zu.
»Großmutter Ba«, rief das Mädchen, »ich hab fünfhundert Dong, bekomm ich dafür einen Kaugummi?«
Die Frau griff wieder nach einer der Tüten am Baum und holte ein Glas mit bunten Kaugummikugeln heraus.»Nimm dir zwei.« Sie strich dem Mädchen zärtlich über die Wange, und in ihren Augen lag jetzt ein weicher Ausdruck.
»Wissen Sie, ob Truong in den letzten Tagen Besuch hatte?«, fragte Ly. »Haben Sie irgendjemanden gesehen?«
»Sie sind von der
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