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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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schon bei weniger Regen voll Wasser liefen.
    »Außerdem ist der Strom abgestellt«, fügte Truong noch hinzu. »Ich könnte dir nicht mal einen Tee kochen.«
    »Bier tät’s auch.«
    »Das ist warm.« Truong lachte. »Also, du rufst später durch, okay?« Dann legte er auf.
    Ly trat wieder in den Regen, um die letzten Meter bis zum Präsidium zu gehen.
    *
    Das mit tinh verlief genau so, wie Ly es befürchtet hatte: Parteikommissar Bui Van Hung, der ranghöchste und älteste Kommissar im Präsidium und Lys direkter Vorgesetzter, hielt einen Vortrag über die Errungenschaften des Sozialismus und ging dann nahtlos dazu über, neueste Verordnungen des Volkskomitees zu erläutern. Diesmal ging es dabei insbesondere darum, dass kleine und zu dickbäuchige Polizisten vom Dienst auf der Straße abgezogen würden. Stattdessen sollten dort mehr hübsche junge Frauen eingesetzt werden, um das Ansehen der Polizei zu verbessern. Ly konnte darüber nur noch lachen. Erst im letzten Jahr hatte man ihnen verboten, im Dienst Sonnenbrillen zu tragen. Als ob solche Maßnahmen irgendetwas ändern würden.
    Es war bereits dunkel, als er endlich aus dem Konferenzraum kam. Er rief bei Truong an, erreichte ihn aber nicht und ging nach Hause.
    Duc, sein sechsjähriger Sohn, lag auf dem Bett, den Kopf auf die Hände gestützt, und schaute »Tom und Jerry«. Sein Hamster kletterte auf seinem Rücken herum.
    »Hallo, Duc. Alles okay?«, fragte Ly.
    Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, sagte Duc: »Ich hab Hunger.«
    Ly schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Vor neun würde Thuy nicht nach Hause kommen. Sie begleitete ihre Reisegruppen meist noch zum Abendessen.
    »Wo ist deine Schwester?«
    »Weg.«
    »Das sehe ich. Hat sie gesagt, wo sie hin ist?«
    Duc schüttelte den Kopf. Ly seufzte. Huong könnte sich ruhig auch mal um ihren kleinen Bruder kümmern. Stattdessen war sie dauernd unterwegs. Sie kam nur noch zum Schlafen nach Hause.
    »Was willst du essen?«, fragte Ly.
    »Pizza.«
    Dieses Pappzeugs, dachte Ly. Aber gut. Zum Kochen hatte er jetzt keine Lust mehr. Bevor er loslief, um die Pizza zu holen, rief er noch einmal bei Truong an. Doch der nahm auch diesmal nicht ab. Sicher würde er später einfach vor der Tür stehen. Das würde zu ihm passen. Ly fragte sich, was er wohl mit ihm besprechen wollte, hatte aber keine Idee.
    Als Ly mit der Pizza für Duc und Frühlingsrollen für sich selbst zurückkam, war er zum x-ten Mal an diesem Tag bis auf die Haut durchnässt. Er zog sich um und versuchte noch einmal, bei Truong anzurufen. Langsam ärgerte er sich. Erst war es Truong so wichtig, ihn zu sprechen, und jetzt war er nicht erreichbar.
    Sie aßen vor dem Fernseher. Duc legte seinen Kopf auf Lys Bauch und verschmierte sein Hemd mit Tomatensoße. Aber das war Ly egal. Es war gemütlich, und er genosses. Duc schlief ein. Und auch Ly döste weg. Er hörte Thuy noch, als sie nach Hause kam, doch er öffnete seine Augen nicht mehr.
    *
    Am nächsten Tag brach die Sonne endlich durch den trübgrauen Himmel. Der Regen hatte aufgehört, und innerhalb von Stunden war das Wasser aus den Straßen abgeflossen.
    Ly saß bei seinem Freund Minh in dessen bia hoi , einem Straßenlokal in der Altstadt. Er klopfte eine Vinataba aus der Packung und zündete sie an. Seine Hände zitterten.
    »Mensch, Ly, hilf mir doch endlich mal.« Minh schnaufte und zerrte einen der Sandsäcke, mit denen er die Küche seines bia hoi vor dem Wasser geschützt hatte, auf die Straße. Heute war der erste Tag, an dem er sein Lokal wieder öffnen konnte. Mehrere Gäste saßen bereits draußen auf dem Gehweg unter dem alten Mandelbaum.
    Ly blieb sitzen. Er atmete den Rauch seiner Zigarette tief ein und hielt ihn lange in den Lungen. Er konnte es einfach nicht glauben. Truong war tot.
    Der Rechtsmediziner Dr. Quang hatte Ly vorhin angerufen. Truong habe einen Stromschlag erlitten, vermutlich als er seinen Kühlschrank angefasst hat. Dr. Quangs Berechnung zufolge sei er gestern zwischen vier und sieben Uhr gestorben. Die Hauswartin, die regelmäßig bei Truong putzte, hatte ihn am Morgen auf dem Boden in seiner Küche gefunden.
    »Und ich hab mich noch über Truong geärgert, weil er nicht mehr erreichbar war«, sagte Ly. »Wenn ich doch nurgleich hingefahren wäre, als er mich angerufen hat. Vielleicht hätte ich ihn …«
    »Hör auf. Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach Minh ihn und trat gegen einen Sandsack, bis er über die Eingangsstufe auf die Straße fiel.

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