Der letzte Werwolf
ihre Venen. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie eingreifen? Doch binnen eines Wimpernschlags hatten sich die Tiere so ineinander verkeilt, dass es unmöglich schien, den Dolch einzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, den Falschen zu treffen. In diesem zermürbenden Dilemma, auf den Kampfplatz starrend, sah sie aus den Augenwinkeln die Umrisse einer Gestalt auf den Tempel zujagen.
„Vorsicht Phil!“, brüllte Valentina mit sich überschlagender Stimme.
Phil blieb wie vom Donner gerührt stehen und blickte entsetzt auf die beiden Tierleiber, die sich, in der vom Mondlicht beschienenen Arena des Tempelvorplatzes, zu einem verbissen kämpfenden Knäuel verknotet hatten.
Er war zu spät gekommen! Verdammt, er war zu spät gekommen! In diesem Augenblick höchster Enttäuschung und Ratlosigkeit spürte er einen Hauch im Nacken, und der süße Duft von Lilien umwehte ihn. Er fuhr herum, und das Blut stockte ihm in den Adern. Eine schwarz verschleierte Gestalt deutete in einer stummen, flehenden Geste auf eine breitblätterige Staude, die ihre borstigen Blütenköpfe dem Mond entgegenreckte. Trotz des Grauens, das ihm die Erscheinung verursachte, empfing Phil klar und deutlich ihre Botschaft. Ohne den geringsten Schmerz zu verspüren, riss er eine Handvoll Kletten von den Stängeln, ballte sie zu einer Kugel zusammen und wickelte das Amulett darum. Dann setzte er zum Wurf an.
Verdammt! Er ließ den Arm wieder sinken. Wie sollte er in dem schnaubenden Wirbel von Fell und Zähnen den weißen Wolf erwischen? Was wenn er ins Leere traf? Himmel, er warf doch immer daneben! Er hatte nur eine Chance: Er musste näher heran!
Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als er sich, ungeachtet seiner zitternden Knie, einen Stoß gab und lospreschte. Keiner der Todfeinde nahm im verbitterten Kampfgetümmel Notiz von ihm. Nur noch wenige Schritte entfernt, machte er sich bereit. – Linkes Bein leicht nach innen gedreht, Ball vor dem Körper, Wurfhand über den Kopf … Die guten Ratschläge seiner Schwester, die er unzählige Male hatte anhören müssen, strudelten durch sein Gehirn. Mit aller Konzentration, die er nur aufbringen konnte, schleuderte er das Klettengeschoss von sich. Atemlos sah er, wie es den weißen Wolf oberhalb des Hinterlaufs traf und sich im dichten Pelz verhakte.
Mit einem schrecklichen Aufheulen ließ der Werwolf von seinem Opfer ab. Schaum troff in weißen Flocken aus seinen Lefzen, während er in verzweifeltem Zorn zurückwich. Aus unzähligen Wunden blutend, raffte der weiße Wolf seine letzten Energien zusammen, ihm nachzusetzen. Doch seine Kräfte versagten. Mit einem herzzerreißenden Laut brach er zu Boden und versank in Bewusstlosigkeit.
Augenblicklich richtete sich die erbitterte Wut des Werwolfs auf den Jungen, der ihm den nahen Sieg zunichtegemacht hatte.
Valentina, die alles fassungslos beobachtet hatte, ohne genau nachvollziehen zu können, was passiert war, schrie auf, als sie gewahr wurde, dass der Werwolf im Begriff war, sich auf ihren Bruder zu stürzen. Sie zog den Dolch aus der Scheide und raste wie eine Amazone los. Herr Bozzi jagte, aggressiv kläffend, vor ihr her, sprang dann mit allen vieren hoch und verbiss sich im Schwanz des Werwolfs. Aufheulend fuhr die Bestie herum und versuchte, den Quälgeist wegzubeißen. Phil packte die Gelegenheit beim Schopf und warf sich neben seinen ohnmächtigen Freund, sodass der Schutzkreis des Amuletts den Werwolf daran hinderte, ihm nahe zu kommen.
Sofort konzentrierte sich die Raserei der Bestie nun auf das Mädchen, das zitternd, aber zu allem entschlossen, den Dolch auf ihn richtete, während Herr Bozzi, gleich einer grotesken Verlängerung der räudigen Wolfsrute, beharrlich an seinem Gegner hing. Nachdem alle Versuche, den kleinen Angreifer loszuwerden, nicht fruchteten, bündelte das Ungeheuer seine Energien unerwartet nach vorn und schoss auf Valentina zu.
Obwohl das Folgende nur Sekunden dauerte, erlebte sie alles wie in Zeitlupe. Jäh sah sie den aufgerissenen Rachen des Werwolfs vor sich, roch seinen bestialischen Atem und spürte die brennende Glut seiner Pupillen. Doch anders als im Traum fühlte sie jetzt, da sie das Scheusal leibhaftig vor sich hatte, keine Angst. Die Kraft des Liliendolchs durchströmte jede Faser ihres Seins. Für einen kaum bewussten Moment war ihr, als führe jemand ihre Hand. Beherzt stieß sie zu, ehe die Reißzähne zupacken konnten. Zielgenau bohrte sich der Dolch in ein glühendes Auge, dessen Feuer in einer
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