Der Liebe Gott Macht Blau
drei Sekunden dauerte es nur, von Bulgarien nach Helsinki ist es letztlich ein kurzer Weg.
Die Baustelle von Haka auf der Kluuvikatu im Zentrum von Helsinki war leicht zu finden. Der riesige Turmdrehkran hievte gerade ein massives Wandelement an seinen Bestimmungsort. In der Fahrerkabine saß Pirjeri Ryynänen, ohne zu ahnen, dass hoher Besuch für ihn eintraf.
Der Erzengel Gabriel flatterte unauffällig hinter den Bauzaun und ordnete sich ins Straßenbild ein. Der heilige Petrus hingegen schwebte zu den Nachbarhäusern hinauf und von dort geradewegs zur Spitze des Krans, er setzte sich auf das Dach der Fahrerkabine und klopfte an. Pirjeri Ryynänen lugte aus dem Fenster. Hatte sich etwa wieder eine Möwe aufs Dach gesetzt, um zu scheißen? Seine Verwunderung war grenzenlos, als er draußen einen alten bärtigen und sonnengegerbten Mann sah. Der Kerl sah aus wie der Weihnachtsmann oder wie ein uralter Heiliger.
Pirjeri sagte sich, dass der Alte offenbar sehr gelenkig war,denn wie sonst war es ihm wohl gelungen, bis in diese Höhe heraufzuklettern, und wie konnte er es wagen, dort oben zu sitzen? Anscheinend war ihm nicht mal schwindelig.
»He, Alter, was machen Sie denn da?«
Pirjeri vermutete, dass der Opa nachts auf den Kran geklettert war, wahrscheinlich war er verrückt oder besoffen gewesen, oder beides zusammen. So etwas kam ja manchmal vor, besonders junge Männer erklommen im Vertrauen auf die eigene Kraft Fabrikschornsteine oder die Balkone von Hochhäusern, oder sie setzten sich aufs Dach fahrender Schnellzüge, wenn ihnen zum Beispiel ein Mädchen eine Abfuhr erteilt hatte … aber dass dieser alte, würdevoll aussehende Mann auch so einen Unsinn veranstaltet hatte … manche Menschen werden eben nie erwachsen.
Pirjeri öffnete die Türklappe und forderte den Alten auf, herunterzukommen. Er versprach, ihm behilflich zu sein, denn dort oben sei es nun mal lebensgefährlich.
Der Alte glitt mühelos vom Dach und ließ sich in die enge Fahrerkabine fallen, Pirjeri brauchte ihm nicht mal die Hand zu reichen. Es wirkte, als könnte der Alte durch die Luft gehen.
»Ich bin der heilige Petrus, also jener alte Apostel«, stellte er sich vor. »Sie dürften Birger Ryynänen sein, ein hiesiger Kranfahrer?«
Pirjeri geriet nicht so schnell aus der Fassung, aber jetzt saß er wie vom Donner gerührt. Das war einfach etwas, das über seinen Verstand ging. Er begnügte sich mit den Worten:
»Gewiss, Ryynänen, der bin ich … Tag auch, und willkommen …«
Der heilige Petrus beklagte die Enge der Kabine und schlug vor, dass man sich nach unten begeben solle. Er zeigte auf einen dunkel gekleideten Mann, der auf dem Bürgersteig hinter dem Bauzaun stand, ebenso alt wie er selbst, und der gerade in diesem Moment zu ihnen heraufschaute.
»Jener Herr dort unten ist der Erzengel Gabriel. Er ist mein engster Arbeitskollege. Treffen wir uns doch in Kürze bei ihm, einverstanden?«
»Nun ja, warum nicht …?«
Petrus öffnete die Tür der Kabine, schaute sich kurz um und glitt mit flatternden Hosenbeinen nach unten zum dort wartenden Gabriel.
Zur selben Zeit setzte gerade ein gewisser Tero Latikainen, stellvertretender Lagerverwalter in der Eisenwarenbranche, ein zum Suff neigender Kerl, zur Bekämpfung seines Katers das Glas mit dem zweiten Schnaps des Tages an die Lippen. Er lag halb angezogen im zerwühlten Ehebett, ein Bett, das die Ehefrau bereits während seiner vorigen Saufperiode verlassen hatte. Zerstreut sah er aus dem Fenster auf den hohen, fast die Wolken streifenden Kran auf der nahen Baustelle. Latikainen beobachtete, wie sich auf dem Dach der Fahrerkabine ein unheimlich großer weißbärtiger Vogel niederließ, nein, das war gar kein Vogel, sondern ein Mensch, verflixt noch mal, ein alter Opa … dann kletterte der Alte in die Kabine und kam bald wieder heraus, segelte wie ein Flughörnchen nach unten auf die Straße und stellte sich auf den Bürgersteig zu einem anderen alten Mann. Tero Latikainen ächzte, stand aus dem Bett auf und wankte ins Bad, wo er sein Glas ins Waschbecken leerte. Dann kehrte er wieder ins Zimmer zurück, griff mit zitternden Händen nach demTelefonbuch und suchte sich die Nummer der Anonymen Alkoholiker heraus.
Die beiden alten Männer, der Apostel und der Erzengel, standen auf dem Bürgersteig und gaben Pirjeri Handzeichen, dass er herunterkommen solle. Sie meinten es anscheinend ernst.
Pirjeri blieb nichts anderes übrig, als die schmale Leiter hinunterzuklettern. Es war
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