Der Liebessalat
Angenehme Lage. Und vor allem: nicht mehr in Deutschland leben. Nicht ständig dieser Zwang, sein eigenes Land zu kritisieren. Seitdem Viktor in Zürich lebte, waren ihm die Machenschaften und das Gezeter der deutschen Politik erholsam einerlei. Der Dreck und das falsche Gold der Schweiz gingen ihn wenig an. Dem Gastland gegenüber war man milde. Er war ein luxuriöser Asylant. Er fühlte sich frei. Ab und zu kümmerte er sich um die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung. Ein angenehmer Spaziergang zum »Amt für Migration«. Das war alles. Wenn er von Deutschland kommend bei Basel, Schaffhausen oder Konstanz in die Schweiz eintauchte, überkam ihn noch immer das Wohlgefühl, eine Verpflichtung los zu sein. Er genoß sein Schweizer Konto und die Währung: Rappen und Franken wie im Märchen.
Wien wäre Viktor, von seiner Architektur und Geschichte, der Sprache seiner Bewohner her als Wohnsitz noch lieber gewesen. Die österreichischen Laute hörte er lieber als die schweizerischen. Und Zürich hatte manchmal keinen Charakter. Dafür war es näher an Frankfurt. Viktor und Ellen hatten ihre Wohnung in Frankfurt nicht aufgegeben. Weniger, weil sie nicht wußten, wie sich Ellens Job bewähren würde, sondern weil sie keine Lust hatten, mit allem Hab und Gut umzuziehen. Als Viktor damals angefangen hatte, die Bücher in Kisten zu verpacken, war nach zwei Sechzehn-Stunden-Tagen erst eine Kiste gefüllt. Dreißig Kisten würden es werden. Das heißt, zwei Monate lang würde er sechzehn Stunden täglich zum Einpacken der Bücher brauchen. Oder vier Monate bei einem normalen Achtstundentag. »Du bist nicht normal!« hatte Ellen gesagt. Viktor hatte erklärt, daß er noch viel zu flüchtig arbeite, daß er eigentlich für das Verpacken jedes einzelnen Buches ein bis zwei Stunden Zeit bräuchte, ein Umzug sei die Chance, die Lesevergangenheit Revue passieren zu lassen, sich an die Umstände der Lektüre zu erinnern, die Bücher, die man einst mochte, zu überprüfen, sich über seinen Geschmack von einst zu wundern und wehmütig zu werden, noch wehmütiger zu werden bei dem Gedanken, wahrscheinlich keine Zeit mehr zu haben, Hamsuns
Hunger
und Dostojewskijs
Dämonen
und Stendhals
Rot und Schwarz
und fünfhundert andere einmal verschlungene Bücher jemals noch einmal zu lesen; zu verzweifeln bei der plötzlichen Erkenntnis, daß man vom Inhalt seiner Lieblingsbücher achtzig bis neunzig Prozent vergessen hat, noch heftiger zu verzweifeln darüber, wie viele der Bücher, die man besitzt, man nie gelesen hat. Man konnte sich aussuchen, was schlimmer war: das Unwissen oder die Vergeßlichkeit. Tausende von Büchern, Tausende von Beerdigungen. Keine Chance mehr auf eine Wiedergeburt. In Zürich würden sie wieder aus der Kiste kommen und in ein Regal, aber das wäre nur ein scheinbares Erwecken. Die Bücher blieben Leichen. Es waren zu viele. »Und ich trage bei zu diesem Wahnsinn!« Viktor, sonst eher robust, war am Boden zerstört. Wehmut, Schwermut, Unmut drückten ihn. Er griff sich an den Kopf. Diese Melancholie war nur auszuhalten, wenn man sie sofort aufschrieb. Dann war sie gebannt. So hielt Viktor, wie Hamlet den Totenkopf, jedes Buch vor sich hin, blätterte darin herum, stöhnte und notierte seine Einfälle. »Mein Stöhnen ist echt«, sagte er, als Ellen ihn bat, schneller zu packen und weniger affektierte Laute von sich zu geben. Er hatte selten Zeit für Weltschmerz und fand, wenn er ihn überkomme, müsse er die trübe Stimmung literarisch nützen. Er legte ein Melancholie-Heft an, um später daraus zu schöpfen, wenn er in guter Laune eine Passage mit verdrießlichen Gedanken brauchte. Mit den Schallplatten und CDs würde dasselbe bevorstehen. Da hatte Viktor aufgegeben.
Erstaunlich rasch hatte sich Ellen überzeugen lassen: Wir ziehen nicht um! Wir behalten die Wohnung. Wir nehmen nur das Nötigste mit. Ein erlösender Entschluß. Die Züricher Wohnung würde wunderbar unvollgestopft bleiben. Sollte man Lust haben,
Effie Briest
in der alten Ausgabe zu lesen, konnte man das Buch in Frankfurt holen. Viktor dachte daran, daß es auch wegen Beate praktisch wäre, die Frankfurter Wohnung nicht aufzugeben. Beate war in Frankfurt das gewesen, was jetzt in Zürich Susanne war: Viktors Liebste. Beate war Lehrerin und eine seiner wenigen Eroberungen, die er nicht in seiner Funktion als Schriftsteller gemacht hatte. Viktor fand, sie sah brasilianisch aus. Ellen hatte ihn einmal gesehen, wie er mit Beate in einem
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