Dann fressen ihn die Raben
Animal liberation is a fierce struggle that demands total commitment. There will be injuries and possible deaths on both sides. That is sad but certain.
Ronnie Lee, Gründer der Animal Liberation Front
Plötzlich fand ich Liv süß. Warum bloß? Ich wusste es nicht. Sie war ehrgeizig, bissig, unnahbar. Eigentlich hatte sie eine Ausstrahlung wie ein Morgenstern, der einen jeden Moment mit seinen Dornen verletzen konnte. Ich versuchte verzweifelt, eine Antwort auf meine Frage zu finden, während ich mir auf dem Klo von Livs Eltern eiskaltes Wasser ins Gesicht klatschte.
„Und last, but not least sind … Liv und Nick in einem Team!”, hatte unser Lehrer verkündet, als er die Gruppen für unsere Projektarbeit im ersten Oberstufenjahr einteilte. Das gab mir völlig den Rest. Ich arbeite am liebsten allein. Dann kann ich ruhig und gelassen Deadlines versauen und die Aufgaben zu spät abgeben. Aber okay. Mir war vorher klar gewesen, dass das zu den Bedingungen auf dem Gymnasium gehörte, und ich hatte mich auf dieses Gruppen-Gedöns eingestellt. Nur nicht mit Liv. Voll der Abturn!
Liv arbeitete wie eine Chirurgin. Sie hängte die Röntgenbilder vor sich auf, holte dann ihr Skalpell raus und desinfizierte die Haut. Sie war schnell, präzise, konzentriert. Ich dagegen hätte zuerst die Bauchhöhle aufgeschlitzt, um zu gucken, was überhaupt drin war.
Zwischen Liv und mir stand … Jonathan. Wenn er nicht zufällig Livs Freund gewesen wäre – ja, dann hätte ich sie gar nicht erst kennenlernen müssen. Dann wären wir lediglich in eine Klasse gegangen. Sie hätte mich für einen krassen Loser gehalten und ich sie für eine arrogante Tussi. Sie hätte zu unserem GK-Lehrer sagen können, dass diese Gruppenzusammensetzung unmöglich wäre, weil Nick total unfähig ist. Dann hätte sie ihre Eins bekommen, und ich hätte mir in der Nacht vor der Abgabe schnell was aus den Rippen geleiert. Aber nach der ganzen Sache mit Jonathan waren wir irgendwie Freunde geworden. Und nach und nach hatte sich bei mir das Gefühl eingeschlichen, dass Liv … süß war. Verdammt süß. Irgendwie hatten wir unsere Tentakeln ineinander verhakt, als Jonathan verschwand. Als wir bei Mateus zu Hause saßen und den Videoclip mit Jonathan sahen, den Ikarus uns geschickt hatte. An jenem Abend hatten wir ihn schätzungsweise zwanzig Mal gesehen. Und als ich wieder zu Hause war, sah ich den Film noch mindestens zwanzig weitere Male – allein. Am Ende starrte ich nur noch einen der allerletzten Frames an, auf dem man die Person auf Gleis 4 des Aalborger Bahnhofs am besten sehen konnte.
War das Jonathan? Wir hofften es. Am Tag darauf trafen wir uns am Kopenhagener Hauptbahnhof und fuhren nach Aalborg. Ich hatte einen Stapel Plakate dabei, die ich an alle senkrechten Flächen pappte. Wir befragten Bahnangestellte, Junkies und Flaschensammler. Doch niemand wusste etwas. Auf dem Heimweg war unsere Laune im Keller. Jonathan war und blieb verschwunden, und eigentlich waren wir ihm nicht näher als vor unserem Ausflug. Aber nicht nur deswegen war ich mit den Gedanken ganz woanders gewesen. Plötzlich starrte ich auf Livs Lippen, die diskret vom Lipgloss glänzten. Auf ihr Haar, das sie mit einem Haargummi zusammengebunden hatte. Ich bewunderte sie dafür, dass sie so bedingungslos in Jonathan verliebt war. Dass sie so wahnsinnig kompromisslos war. Als wir am Østerport aus dem Zug stiegen, war ich traurig. Und als ich mich von den anderen trennte und in Richtung Strandboulevarden lief, um nach Hause zu gehen, spürte ich einen Stich im Magen. Ich starrte Liv hinterher, wie sie gemeinsam mit Mateus abzog. Ganz schleichend dämmerte mir, was los war. Ich hatte mich Hals über Kopf in sie verknallt – wider alle Erwartungen.
Als wir uns wegen des Schulprojekts in der Bibliothek in der Dag Hammerskjölds Allé trafen, laberten wir erst mal über alles Mögliche. Alles drehte sich irgendwie um Jonathan, wir sprachen über die Arroganz, mit der uns die Polizei damals abgewiesen hatte, als wir ihr von seinem Verschwinden erzählt hatten, und über den blöden Videoclip, der uns zu den Ohren raushing, nachdem wir ihn mindestens vierhundert Mal gesehen hatten. Wir regten uns über die Andeutungen der Bullen auf, dass Jonathan womöglich ein Drogenwrack sei, und über ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Video. Wir sprachen es nicht offen aus, aber natürlich war uns allen schon einmal der Gedanke gekommen, dass Jonathan möglicherweise ein Drogenproblem gehabt
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