Der Lippenstift meiner Mutter
Cassinos beurlauben lassen, sie war ausgeschlafen und strotzte vor Tatendrang; dieser jedoch hatte nichts mit den Arbeiten zu tun, die in der Küche anfielen und erledigt werden mussten: Für solche Arbeiten hatte sich Barteks Mutter noch nie begeistern können, insbesondere dann nicht, wenn sie sich die Fingernägel frisch lackiert hatte. Sie brauchte viel Zeit für ihre Toilette, für das meditative Sitzen vor dem Spiegel, wenn sie sich schminkte, die Wimpern tuschte, den Puder auftrug, die Lippen rosafarben zum Glänzen brachte, sich das weiße Hemd von ihrem Bauchnabel aufwärts zuknöpfte, den Sitz des Büstenhalters korrigierte. Sie musste sich an diesem Morgen über einer Schüssel waschen – in Hildes Altbauwohnung gab es kein Badezimmer. Und Bartek beobachtete sie beim Waschen, Anziehen und Schminken; er saß auf dem Stuhl in der Küche – die Tür zu Oma Hildes Schlafkammer war einen Spalt breit geöffnet – und sah seiner Mutter bei ihrer morgendlichen Messe zu: Stasia sprach mit dem Spiegel und ihrem Lippenstift, summte zwischendurch einen Schlager und freute sich, dass sie sich für die Trauergäste, für all die jungen Männer in schwarzen Anzügen, hübsch machen durfte. Und somit war es selbstverständlich, dass Hilde ihrer besten Freundin, der Polin Olcia, beim Zubereiten des Frühstücks und beim Kochen helfen musste – die meisten Gerichte waren Gott sei Dank schon fertig, nachdem Oma Olcia zwei Nachmittage an ihrem Herd verbracht hatte.
Die Witwe erwartete zum Leichenschmaus mehr als zwanzig Trauergäste. Das Mahl des Ziegenbocks, von dem Barteks Mutter gesprochen hatte, würde sehr üppig ausfallen, obwohl am Freitag normalerweise kein Fleisch gegessen werden durfte; aber Hilde war nicht katholisch und musste nicht fasten: Es gab Kohlrouladen, Buletten, Schweineschnitzel, Bigos , selbst gemachte Blut- und Schinkenwürste, Hähnchenkeulen, hart gekochte Eier mit Mayonnaise – sowie Bier und Wodka, Cognac und Eierlikör, Kartoffelsalat und Rote Beete, Käsekuchen mit Rosinen und Pralinen aus Warschau; im Fleischerladen am Marktplatz versetzten die splitternackten Fleischhaken an den gefliesten Wänden die hungrigen Kunden in Wut, aber in jedem Haus des Lunatals waren die Kühlschränke voller Wurstwaren und Leckereien, besonders dann, wenn jemand gestorben war oder geheiratet hatte. »Das Jenseits und die Liebe kennen den Hunger und die Gier genauso gut wie das Diesseits und der Hass«, sagte Opa Franzose.
Gegen elf Uhr morgens kam der Wassermann Krzysiek mit Barteks jüngerem Bruder, wenig später Onkel Fähnrich mit dem Geländewagen, auf dessen Ladefläche der Sarg mit Monte Cassinos Leichnam für den Trauerzug zur St.-Johann-Kirche und zum Friedhof an der Luna befestigt werden sollte, und dann erschien endlich auch der Pfarrer J ę drusik. Von seinen Messdienern begleitet, begutachtete er die Speisen, den Leichnam und seinen Sarg. Er war zufrieden und sagte, dass er eine ausgezeichnete Trauerrede für den Verstorbenen halten würde. »Requiem æternam dona eis , Domine , et lux perpetua luceat eis«, sagte er am Sarg Monte Cassinos. »Wir werden mit deiner Totenmesse, mein Sohn, pünktlich anfangen!«
Die Trauergäste strömten in Hildes Wohnung: Opa Franzose, Onkel Versicherung mit Tante Agata und Onkel Fähnrich mit Tante Hania, der Fabrikdirektor Szutkowski, Herr Tschossnek und seine Frau, die Hure Marzena, der Totengräber Biurkowski, der Mörder Baruch, Herr Lupicki mit seiner Tochter Mariola, Micha ł Kronek, der seine drei Cousins mitgebracht hatte, die litauischen Sänger. Und selbst die Stalinistin Natalia Kwiatkowska war gekommen und erntete von ihrem ehemaligen Geliebten Respekt und bewundernde Blicke – von Olcia und der Witwe dagegen hasserfüllte Curare-Pfeile, die das Herz der Stalinistin auf der Stelle vergiften und töten sollten. Alle Anwesenden unterhielten sich kaum miteinander, sie aßen eine Scheibe Brot, tranken ein Glas schwarzen Tee oder Bohnenkaffee aus Westdeutschland und zwängten sich still ins Wohnzimmer, wo schon der Fotograf Po ś piech zusammen mit dem Pfarrer J ę drusik, den Messdienern und der Witwe am Sarg wartete.
Bartek staunte, als er das Wohnzimmer betrat. Er schloss seine Augen und öffnete sie erst wieder nach zehn Sekunden – er hatte im Geiste bis zehn gezählt. Doch nach wie vor täuschte er sich nicht: Sein Bruder, seine Eltern und Verwandten, der Pfarrer J ę drusik, die Messdiener, der Fotograf, die litauischen Sänger, alle
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