Der Lippenstift meiner Mutter
brauchen dich …« Und Herr Lupicki bereitete sich auf diesen Urlaub, auf die Schließung seiner Werkstatt bedächtig vor – er spielte die leiseste und bedächtigste Schustermusik, die Bartek je gehört hatte. Micha ł Kronek, Monte Cassinos größter Feind, versuchte auch, leise und bedächtig zu sein, doch es gelang ihm nicht: Er schlug die Nägel in die Absätze der Männer- und Kinderschuhe mit für ihn typischer Wucht eines Cholerikers ein, als wäre nichts geschehen. Er beteuerte die ganze Zeit, dass er am Freitag seine litauischen Cousins zur Trauerfeier in der Hanka-Sawicka-Straße mitbringen würde, seine litauischen Sänger, die Monte Cassino ein paar Trauerlieder sängen.
Opa Franzose mochte sich mit all den trauernden Verwandten, Freunden und Bekannten nicht arrangieren und zog sich in den Frisiersalon von Herrn Tschossnek zurück. Dort spielte er Schach und liebte Tschossneks Frau. Für die Nacht zum Donnerstag kam er in die Hanka-Sawicka-Straße. Er sagte zu Bartek: »Heute will ich dir Gesellschaft leisten – die Toten sind seltsame Geschöpfe: Sie können nicht mehr sprechen und leiden, aber sie sind dennoch so verzweifelt, dass sie manchmal auf die Erde zurückkehren und ihre alten Winkel aufsuchen – hab keine Angst, Bartek, ich werde dich vor diesen lebensgierigen Kreaturen beschützen!« Der Franzose konnte aber nicht einschlafen und ging dauernd in die Küche, in der Monte Cassino auf einer Campingliege oft ein Mittagsschläfchen gehalten hatte. Der Franzose überprüfte, ob er die Wohnzimmertür wirklich richtig abgeschlossen hatte, holte sich einen Schluck Wasser, weckte Bartek und fragte ihn: »Hast du etwas gehört? Irgendein Geräusch?« − »Nein, ich habe nichts gehört.« − »Dann schlaf weiter«, sagte er.
Komisch, dachte sich das Schusterkind, wie kann es angehen, dass der Franzose Angst vor dem Tod hat? Und meine Bettdecke – sie bewegt sich von allein! Komisch! Sie kann fliegen!
Für die Nacht zum Freitag kam Barteks Mutter zum Schlafen in die Hanka-Sawicka-Straße. Sie zog ihren Pullover und ihren Rock aus, zog ihre Unterwäsche und Strümpfe aus, und nachdem sie ihre Kleidung vollständig ausgezogen hatte, legte sie sich nackt zu ihrem Sohn und sagte: »Hilde − die ist so was von krank im Kopf! Dass sie dich mit Monte Cassino über die Nacht allein lassen wollte, werde ich ihr nie verzeihen! Und du komm wieder nach Hause zurück, mein Schusterkind, komm zurück! Du fehlst uns sehr! Ich schaffe es nicht einmal mehr, richtig einkaufen zu gehen oder etwas zu kochen! Quecksilber kann ich nicht mit einem Einkaufszettel losschicken – er ist so kränklich und schwach! Und du bist so klug und stark!« Dann schlief sie ein, und sie schlief und schlief in dieser letzten Nacht vor der Beerdigung ohne ein absehbares Ende ihres Schlafs, und da sie so fest schlief, begann das Schusterkind sich Sorgen zu machen, denn seine Mutter schlief in ihrer Nacktheit unbekümmert, als wäre Opa Monte Cassino gar nicht tot. Sie hatte keine Angst vor ihm und, wie es Bartek schien, auch nicht mehr vor dem Wassermann, ihrem Ehemann. Dem Schusterkind fiel es dann am nächsten Morgen schwer – zumal es selbst in Monte Cassinos violetter Obhut nicht richtig schlafen konnte − Stasia zu wecken, damit sie wieder in ihre Schule ging und die Kinder unterrichtete. Solch einen tiefen unbekümmerten Schlaf zu unterbrechen, glich für Bartek einem schlimmen Verbrechen. Und als er im Begriff war, Stasia zu wecken und seiner Mutter das Aufwachen schmackhaft zu machen, öffnete sie von allein ganz langsam ihre Augen. Und sie öffnete auch ihre Lippen, die ungeschminkt waren und die nach einem Lippenstift schrien, weil sie große Sehnsucht nach Liebe hatten. Ausgerechnet an diesem verschlafenen Lippenstifttag sollte das Begräbnis von Opa Monte Cassino stattfinden? Bartek staunte, und seine Mutter wachte endlich auf, und sie war hungrig und durstig und lebendig und gesprächig: »Komm, Bartu ś ! Wir werden Olcia beim Zubereiten des Frühstücks für die Trauergäste helfen! Das heißt, du wirst mich am Herd vertreten müssen, wofür ich dir sehr dankbar wäre! Es ist das Mahl des Ziegenbocks, das heute den Trauergästen serviert wird! Hast du davon noch nie gehört? Nicht einmal in der Schule? Lest ihr keine Werke unseres großen litauischen Nationaldichters?« − »Wir lesen, und wir wollen lesen, aber wir müssen lesen …«, antwortete ihr das Schusterkind.
Stasia hatte sich für die Beerdigung Monte
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