Der Lippenstift meiner Mutter
der Nacht zum Mittwoch. Kurz nach seinem Tod mussten die Notstromaggregate des Johanniter-Krankenhauses ihre Arbeit aufnehmen, da der Strom ausgefallen war. Bei besonders hohen Minustemperaturen trat diese Störung ein, wodurch die Regierung zusätzlich Steinkohle sparte − das violette Licht in den beiden Operationssälen im zweiten Stock, dieses Olympische Feuer des Todes, durfte aber niemals ausgehen. Und als Bartek zusammen mit seinem Vater am frühen Morgen ins Krankenhaus kam, um Hildes Mann zu rasieren und zu waschen, waren sein Bett bereits neubezogen, das irdische Postpaket auf den Weg ins Totenreich gebracht und die Stromstörung behoben worden.
»Wir wollten dich doch rasieren! Verdammt! Rasieren!«, schrie Barteks Vater, warf sich auf das neubezogene Bett und stopfte sich das Kissen zwischen die Beine. In dieser embryonalen Position eines Trauernden verharrte er lange, schluchzte und klagte, dass er seinen geliebten Papa, den Schuster Monte Cassino, nie wieder würde rasieren können. Das Schusterkind verzog unterdessen keine Miene: Auf solche violette Trauer und Überschwemmung war es nicht gefasst gewesen. Und nachdem sich der Vater ein wenig beruhigt hatte, bat er Mariola, die an diesem Morgen auf Monte Cassinos Station Frühdienst hatte, sie möge ihm alle notwendigen Dokumente ausstellen und den Leichnam offiziell übergeben – ein Krankenwagen könne Monte Cassino dann nach Hause fahren, wo er in einem Sarg im Wohnzimmer für drei Tage aufgebahrt werde, so wie es dem Brauch im Lunatal entspräche, meinte Krzysiek. Mariola weigerte sich, Krzysieks profane Wünsche zu erfüllen, sie besitze keine Befugnis dazu, derlei Dinge standardmäßig abzuwickeln, sagte sie und kassierte von ihrem Liebhaber dafür eine saftige, rot strahlende Ohrfeige.
»Es ist aus zwischen uns! Aus!«, schrie Krzysiek sie an und wischte sich mit dem Mantelärmel die Trauertränen. »Und jetzt gebt mir meinen Vater zurück, oder ich vergesse mich!«
»Gebt mir meinen Vater zurück!«, wiederholten die Mauern des Johanniter-Krankenhauses im Chor.
Bartek war endlich stolz auf seinen Vater − den Wassermann, unberechenbaren Algebraschüler, Taschenrechner, Freizeitanimateur von Warmianka und Säufer. Er sagte: »Mariola, Mariola! Wir werden keine zwei Minuten lang warten! Wir haben dafür keine Zeit!«
»Genau, mein Schusterkind!«, pflichtete ihm der Wassermann bei. »In Teufels Namen!«
Und dann ging alles sehr schnell: Wenige Stunden später lag Opa Monte Cassino schon in einem von dem Totengräber Biurkowski ausgeliehenen Sarg im Wohnzimmer bei Oma Hilde. Es gab keine Särge – in ganz Dolina Ró ż nicht, es war ein kommunistisches Elend mit diesen Särgen, und nicht selten mussten die Angehörigen der Verstorbenen in fremde Städte und Dörfer des Lunatals fahren, um einen Sarg und ein Dutzend Nägel zu besorgen.
Onkel Fähnrich stellte die halbe Kaserne auf den Kopf, aber einen Sarg fanden seine Soldaten nirgends zwischen all den Panzern und Haubitzen und sowjetischen Wunderwaffen. Ja, Onkel Fähnrichs Gelbe Kaserne war eine perfekte Mordwaffe, aber Särge bauen zu lassen, das hatte der General Jaruzelski ganz einfach vergessen!
Onkel Versicherung hatte mehr Glück: Er fuhr nach Galiny zu seinen Bauern, die er als Versicherungsvertreter betreute, trank mit ihnen ein Fläschchen Wodka, zahlte ihnen ein beträchtliches Sümmchen und kam freudestrahlend und angetrunken zu Oma Hilde zurück − nur drei Stunden hatte er für dieses Geschäft gebraucht. Auf dem Dachgepäckträger seines fünfzehn Jahre alten Volvos, eines der wenigen ausländischen Autos von Dolina Ró ż , ruhte der mit Seilen befestigte Sarg aus dunkelbraun gebeizten Kiefernbrettern. Seine Innenwände waren sogar gepolstert und mit einem samten schillernden Stoff bezogen, und auf dem Sargdeckel prunkte ein Kreuz aus rostfreiem Stahl. Der Totengräber Biurkowski bekam noch am selben Abend sein Prachtstück zurück; er sagte, er würde diesmal tiefer als sonst das Grab ausheben, er würde graben und graben, bis ihm der Spatenstiel in der Hand bräche. Bis zum Umfallen grübe er für Monte Cassino!
Barteks Opa wurde dann doch noch ein letztes Mal rasiert und gewaschen, und Hilde und ihr Sohn zogen ihm seinen besten Sonntagsanzug an. Herr Lupicki brachte der Witwe ein Paar nagelneue, blitzeblank geputzte Halbschuhe aus schwarzem Kalbsleder. »Wozu das? Wozu? Er hat keine Füße, keine Beine – es gibt ihn nicht mehr!«, ärgerte sich Hilde und
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