Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
Vom Netzwerk:
weinte.
    »Die Beinprothesen, die Beinprothesen, Verehrteste!«, antwortete der alte Schuster. »Seine Beinprothesen haben Füße − aus bestem Eichenholz! Er soll wie ein Mensch beerdigt werden!«
    Monte Cassinos letzter Wunsch war, dass Bartek seine schwarzen Sonntagslackschuhe aus feinstem Leder bekäme. Hilde übergab ihrem Enkel kommentarlos den Karton mit dem nagelneuen Paar Lackschuhe, sie waren Bartek zu groß, er versprach aber seiner Oma, sie ordentlich zu pflegen und mit Bestimmtheit zu besonderen Anlässen zu tragen. »Sie werden dir sowieso nicht passen«, entgegnete ihm Hilde schließlich. »Diese Schuhe – das ist nicht deine Welt, Bartek. Du sollst nicht in Monte Cassinos Fußstapfen treten!«
    Das Begräbnis und die Totenfeier wurden auf den Freitag festgesetzt, wobei sich Oma Hilde in letzter Sekunde für den Pfarrer J ę drusik und seine Kirche entschied. Zu Herrn Lupicki sagte sie: »Monte Cassino wollte meinen Gott nie akzeptieren: Er war ihm zu menschlich, und er warf ihm vor, dass ein Gott den Menschen das Fürchten lehren müsse und nicht das Lieben!« Und da Hilde andauernd davon redete, sie würde in den Fluss springen (»… ich gehe in den Fluss …«), und keine einzige Minute allein verbringen konnte, weil sie sonst die ganze Zeit heulen würde, musste Bartek wieder umziehen: Er sollte bis Freitag oder gar Samstag bei ihr in der Hanka-Sawicka-Straße übernachten. Das Schusterkind packte seinen Rucksack und verabschiedete sich schweren Herzens von Opa Franzose; zu Hilde sagte es: »Im Wohnzimmer werde ich nicht schlafen – da liegt er doch!« − »Du wirst meine Kammer kriegen – ich werde zu meiner Nachbarin gehen und bei ihr schlafen!« − »Ich dachte, du brauchst mich! Stattdessen lässt du mich über die Nacht mit dem Toten allein?« − »Mit was für einem Toten? Er ist dein Opa …« Bartek blieb keine andere Wahl: Er musste Hildes Bedingungen akzeptieren. Und an den beiden Abenden vor der Beerdigung kamen Anton, Marcin und Romek zu ihm und wollten den Toten sehen. Sie fragten: »Ist Monte Cassino wirklich tot?« − »Ja, er ist tot … Seht selber!« − »Dürfen wir ihn wirklich einmal sehen?« − »Ja, ihr dürft! Ich halte hier die Totenwache!«
    Hilde und Olcia zogen ihre im Trauertragen erfahrensten Kleider an: Die schwarzen Kostüme und Hemden mit Stehkragen, die Stiefel und Kopftücher gefielen dem Schusterkind außerordentlich. Ihre Trauerkleidung schrie nach Vergebung für all die bösen Taten, die Monte Cassino zeit seines Lebens seinen Nächsten angetan hatte, und Bartek konnte diesen Schrei der Trauerkleidung hören, er hörte die Klagen von Hilde und Olcia, die für die Seele des Toten beteten − jede in ihrer Muttersprache.
    Am mittelalterlichen Tor wurden die alten Todesanzeigen mit einer neuen überklebt. Der Drucker hatte jedoch einen fatalen Fehler gemacht, der den Pfarrer J ę drusik ganz verrückt machte – laut der Informationen auf der Todesanzeige fände die Totenmesse in der evangelischen Kirche statt. Der junge Vater J ę drusik fegte mit einer Kleiderbürste die gefrorene Schneeschicht von der Todesanzeige säuberlich weg und korrigierte den Fehler: DIE TOTENMESSE FÜR MONTE CASSINOS SEELE FINDET IN DER ST.-JOHANN-KIRCHE STATT! »Dieser Gläubige hat sich von Martin Luther abgewendet und Christus und Maria als seine Eltern wiederentdeckt – geheiligt sei sein Name!«, antwortete er den verwunderten Passanten, die ihn höflich danach fragten, was er denn da an der mittelalterlichen Mauer eigentlich tue, bürstend, kratzend, kritzelnd.
    Auch Herr Lupicki ließ sich nicht lumpen, was das Trauertragen anging: Er bestellte bei der Schneiderin Sadowska einen neuen Anzug, und auf seinem Kopf wollte der alte Schuster eine schwarze Kippa aus Seide tragen. An den folgenden zwei Abenden kam er zu Hilde und saß mit ihr zusammen ein halbes Stündchen am Sarg. Er zündete die vier Kerzen an, die Hilde so aufgestellt hatte, dass an jeder Ecke des Sargs ein Docht brannte, und Herr Lupicki sprach ganz leise und rauchte keine einzige Zigarette. Er sagte, dass er am Freitag seine Schusterwerkstatt für vierundzwanzig Stunden schließen würde, was es im Städtchen noch nie gegeben hätte. »Das wird mein erster Urlaub werden – der Tag der Beerdigung meines Freundes … Was soll’s! Ich kann sowieso meine Werkstatt dichtmachen – ohne meinen besten Helfer bin ich völlig aufgeschmissen …«, sagte er. − »Red keinen Unsinn …«, antwortete Hilde. »Wir

Weitere Kostenlose Bücher