Der Lockvogel
war nicht sicher, ob er es heutzutage wagen würde, eine Spravka über Malin in Auftrag zu geben, und selbst vor drei Jahren wäre das mit einem gewissen Risiko verbunden gewesen – vielleicht hatte das einfach keiner der Beteiligten geahnt. Zweifellos war der Inhalt offiziell abgesegnet worden.
Spravka bedeutete einfach »Bescheinigung«. Jeder Bereich des Lebens in Russland hatte seine Spravki : Man brauchte eine, um sein Haus zu verkaufen, sich beim Arzt anzumelden, einen Telefonanschluss zu beantragen, Waren zu importieren, einen Pass zu bekommen, seinen Studienplatz anzutreten. In Websters Branche bedeutete es eine Zusammenfassung eines Menschenlebens durch einen der russischen Geheimdienste. Diese weiterzugeben war zwar nach wie vor illegal, dennoch geschah es so regelmäßig, dass solche Informationen mittlerweile zu einem regelrechten Handelsgut geworden waren. Spravki boten selten eine unterhaltsame Lektüre. Geburtsdatum, Arbeit, nächste Angehörige, Haus, Auto, Bildung, Karriere. Geschäftsinteressen innerhalb Russlands, Geschäftsinteressen außerhalb Russlands. Bemerkungen über Karriere und Charakter. Hinweise auf oder Spekulationen über Verfehlungen. Spekulationen über Sexualität. (Die Hälfte aller derartigen Berichte, die er je gelesen hatte, kam in einer beliebten vagen Formulierung der russischen Bürokratensprache zu dem Schluss, es könne »nicht ausgeschlossen werden«, dass der Beurteilte homosexuell sei.) Ein Leben, eingegrenzt auf seine Grundkoordinaten und auf seine Anfälligkeit für Erpressung oder Korruption. Webster staunte immer wieder über die Disziplin, die nötig war, so weit zu reduzieren.
In der Regel galt: Je wichtiger man war – je reicher, je politisch aktiver, je lästiger –, desto länger und ausführlicher geriet die eigene Spravka . Jeder Mensch, der in Russland lebte, hatte natürlich eine Akte, doch die meisten davon enthielten wenig außer banalen Details, die man von anderen Behörden abgefragt hatte. Alles, was reichhaltiger war oder mehr in die Tiefe ging, legte den Verdacht nahe, dass man zu irgendeinem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Geheimdienste auf sich gezogen hatte. Manchmal bekam man trotz der dürren Sprache eine Ahnung von den abgehörten Telefonaten, den diskret ausgehorchten Nachbarn, den überprüften Bankkonten, den Leben, die langsam, aber unausweichlich geöffnet und neugierigen Blicken preisgegeben wurden. Russland mochte das Gefühl haben, geschrumpft zu sein, doch was das geradezu nachlässige Ausüben von Macht über andere Menschen anging, schien sich kaum etwas geändert zu haben.
Auf den obersten Hierarchieebenen war diese Regel allerdings außer Kraft gesetzt: Kein Oligarch oder Minister würde so unvorsichtig sein, seine eigene Akte intakt zu lassen. Mit Geld oder Einfluss wurde seine Spravka überarbeitet und gesäubert, bis sie kaum noch etwas aussagte, und die Informationen, die sie einst enthalten hatte, verschwanden so tief in der dunklen Gruft des russischen Staatsapparats, dass nur noch jemand, der mindestens ebenso mächtig war, Zugang dazu bekommen konnte.
Die erste Spravka , die Webster je gesehen hatte, vor so vielen Jahren, war Inessas, und sie selbst hatte sie ihm gezeigt. Sie begann mit einigen dürren Paragrafen über ihre Kindheit und Jugend, ihre Familie, ihre Schulbildung. Worauf sie aber stolz hinwies, waren die vier oder fünf Seiten, auf
denen es um ihre Arbeit ging und um die Bedrohung, die sie für den russischen Staat darstellte. Inessa stand, so hatte sie ihm erklärt, unter dauernder Beobachtung; sie wurde ernst genommen. Alle ihre Artikel waren angehängt: Korruption in Togliatti, Umweltverschmutzung in Norilsk, Schmuggel in Wladiwostok, Aluminiummorde in Krasnojarsk, Arbeiterstreiks in Rostow, Tjumen, Jekaterinburg, Tomsk – ein repräsentativer Querschnitt durch Russlands erste Dekade der Freiheit. Neben ihr war sich Webster wie ein Amateur vorgekommen.
Inessa Kirova war, so hatte es die Akte formuliert, eine »politisch engagierte Journalistin mit einer Neigung, sich sensiblen Themen zu widmen«; eine freie Journalistin, die über Verbrechen und Korruption schrieb und die die meisten ihrer Artikel an die investigative Nowaja Gaseta verkaufte. Sie hatte Verbindungen zu »schwierigen … unabhängigen« ausländischen Journalisten – »das bist du«, hatte sie Webster vergnügt erklärt – und ein besonderes Interesse an der Beziehung zwischen »Big Business« und Politik, mit anderen Worten daran,
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