Der Lockvogel
Bild an. Er hatte noch nie ein Bild von Malin gesehen. In Schwarz-Weiß, mit halb geschlossenen Augen und dem starren Gesichtsausdruck ohne jeden Anflug eines Lächelns hätte er ein Sowjetfunktionär aus jeder beliebigen Dekade des Kommunismus sein können. Doch es gab einen Unterschied. Malin war reich – war reich geworden, indem er vom Staat stahl; sein Geld war Russlands Geld. Einen Moment lang wagte Webster sich vorzustellen, wie Malin durch die Straßen Moskaus getrieben und als Volksverräter präsentiert wurde, sein Bild auf jeder Titelseite unter dicken schwarzen Lettern, die seinen Sturz verkündeten.
Bis vor zwei Monaten hatte Ikertu Consulting Limited seine Geschäftsräume in drei Stockwerken eines georgianischen Gebäudes in der Marylebone Lane gehabt. Webster war gerne dort gewesen, ebenso wie alle seine Kollegen. Direkt nebenan gab es ein winziges japanisches Restaurant, der andere Nachbar war ein Herrenausstatter; auf der gegenüberliegenden Seite waren nebeneinander ein Feinkostladen, ein Pub und ein Waschsalon. Die Marylebone Lane, die sich durch ein Netz nüchterner Straßen schlängelte, repräsentierte
durch und durch London: abwechslungsreich, nobel und heruntergekommen zugleich, scheinbar völlig ungeplant.
Das Unternehmen war jedoch zu groß geworden für derartige Unbeschwertheit und hatte drei Kilometer westlich in einem modernen Gebäude in der Cursitor Street, einer Seitenstraße der Chancery Lane, neue Büroräume bezogen. Hammer gefiel es, mitten zwischen Anwälten zu residieren, Webster nicht. Er war lieber in der Nähe des noblen, aber unehrlichen Mayfair, mit seinen Briefkastenfirmen, Messingschildern und dem starken Geruch nach unerklärlichem Reichtum, denn in einer Stadt, die zum Intrigieren einlud, war dies der Ort, an dem die meisten Intrigen begannen und endeten. Hier in Holborn verdienten Anwälte ihr Geld im transparenten Sechs-Minuten-Takt und taten alles dafür, jede Intrige im Keim zu ersticken.
Webster war wieder im Büro. Er starrte auf seine E-Mails, dachte vage an die Fälle, die er zurückgelassen hatte, bevor er sich in den Urlaub verabschiedet hatte, und wartete darauf, dass Hammer ins Büro kam. Hammer kam spät zur Arbeit und ging spät nach Hause; zweifellos joggte er gerade hierher. Hammer wohnte in Hampstead, damit er im Park Hampstead Heath laufen konnte. Er lief jeden Morgen zur Arbeit und oft auch nach Hause. Er war siebenundfünfzig und lief sicher achtzig Kilometer pro Woche, mit seinen kurzen Hosen und der Baseballkappe unverkennbar ein New Yorker. Er war klein gebaut, hatte kein Gramm Fett zu viel und lief, beinahe wie ein Geher, den Hals nach vorn gebeugt, mit dem abgehackt-gradbeinigen Laufstil eines Mannes, der sein ganzes Leben lang gelaufen ist. Wenn er ins Büro kam, duschte er und zog sich um. Seine Kleidung war
ihm immer etwas zu groß und unbewusst amerikanisch: Bundfaltenhosen, Tassel Loafers, Kastenjacke mit eckigen Schultern und breitem Kragen. Dann ging er durch die Räume und begrüßte seine Belegschaft, immer noch dampfend, sein gelbes Hemd frisch mit Schweiß gefleckt.
Ikertu war alles für Hammer. Er lebte allein, mit einer Haushälterin, aß schlecht, las Bücher über große Feldzüge und Spieltheorie, und seine Klienten beteten ihn an. Hammers und Ikertus Spezialität – und das, was sie bei guter Auftragslage ausschließlich machten – waren »streitige Fälle«, wie es ihre juristischen Nachbarn nannten. Sie kämpften für ihre Klienten. Sie kämpften dafür, Geld zurückzuholen, hier einen Ruf wiederherzustellen, dort einen Ruf zu ruinieren, Korruption ans Tageslicht zu bringen, die Konkurrenz zu überholen, Unrecht auszugleichen und manchmal auch zu vertuschen. Meistens arbeiteten sie für die gute Seite.
An Websters Bürowand hing eine politische Karte von Europa und Asien, in die er farbige Stecknadeln gesteckt hatte, um das Herz eines jeden Projekts zu markieren. Er schaute die Karte an und fragte sich, wohin dieser Fall ihn führen würde. In Kiew, Almaty, Warschau und Wien standen die Nadeln dicht gedrängt; die Gruppierungen im Ural, im Kaukasus und in Süd-Sibirien waren lockerer; vier oder fünf Nadeln jeweils in Prag, Budapest und Sofia, einzelne in Tallin, Aşgabat, Jerewan, Minsk. Es war wie ein Wärmebild, das Geld und Ärger lokalisierte. Er hatte es aufgegeben, weitere Nadeln in Moskau zu stechen, das eine dicke Masse in der Mitte der Karte bildete.
Sein Telefon klingelte.
»Hallo«, sagte er. »Wo sind
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