Der Maedchenmaler
Silberkette an ihrem Hals funkelte im Licht der Lampe und zauberte Erinnerungen an den vergangenen Sommer hervor, an Sonne, Wasser und gebräunte Haut.
»Ich mache mir gerade Tee«, sagte Lara. »Möchten Sie auch einen?«
Ilka nahm das Angebot gern an. Frost hatte sich über die Stadt gelegt. Auf dem Fahrrad war der Wind so eisig gewesen, dass ihr das Atmen wehgetan hatte.
Sie folgte Lara in die Küche und war überrascht, wie sehr sie sie in diesem Raum wiederfand. Helles Holz, Glas und Chrom. Orangefarbene Vorhangschals, die aus sich heraus zu leuchten schienen. Eine einzige Pflanze auf der Fensterbank, eine Palmenart. Daneben eine abstrakte, runde Bronzeskulptur.
In dieser gepflegten Ordnung eine Pinnwand, die von Zetteln und Zeitungsausschnitten überquoll. Auf dem Tisch benutztes Geschirr für zwei Personen und einige zerlesene, fast schon zerfledderte Gartenjournale. Auf einem Sideboard ein Stapel Bücher und obendrauf eine knallrote Lesebrille.
So ähnlich musste Lara sein. Hinter einer perfekt gestylten Fassade lag der eigentliche Kern, der niemandem zugänglich war, nur den Menschen, denen sie Nähe erlaubte. Und dieser Kern war lebendig und widersprüchlich und voller Energie.
Ilkas Wangen glühten von der plötzlichen Wärme. Sie versuchte, sie mit den Handrücken zu kühlen, aber das half nicht viel. Es machte sie unsicher, und sie brauchte eine Weile, bis sie sich entspannen konnte.
»Sie haben bisher sehr wenig über Ihre Familie erzählt«, sagte Lara.
Mehr nicht. Mit einem einzigen Satz gab sie den Anstoß zu Erinnerungen, die Ilka am liebsten dort gelassen hätte, wo sie waren, gut verstaut tief in ihrem Innern.
Ilka begann, von Tante Marei, Onkel Knut und den Zwillingen zu erzählen. Lara hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Sonnenlicht fiel durch die Fenster, breitete sich auf dem Holzboden und dem Teppich aus und ließ die Farben explodieren. Der Himmel war hoch und blau, mit ein paar Wolken, die sich langsam bewegten.
Als Kind hatte Ilka oft geträumt, fliegen zu können. Hoch hinauf und mit den Vögeln davon. Es hatte ein überwältigendes Glücksgefühl in ihr ausgelöst, das sie noch empfunden hatte, nachdem sie aufgewacht war. Ganz allmählich hatte es sich verflüchtigt und einer tiefen Trauer Platz gemacht.
»Woran denken Sie, Ilka?«
Laras Stimme war plötzlich weit weg. Ihr Lächeln verschwamm. Die Wolken draußen am Himmel hatten sich verzogen.
»Wenn ich will, kann ich fliegen. Wenn ich will, bis ans Ende der Welt.«
Rubens Augen glänzen. Sein schmales Gesicht sieht glücklich aus. Er liegt auf dem Boden. Um ihn herum tanzt der Staub im Sonnenlicht.
Es ist Spätsommer. Die Tage sind heiß, die Nächte kühl. Die ersten Blätter fallen von den Bäumen. Die Jungen der wilden grauen Katze haben den Schuppen verlassen. Doch noch hat sich der Sommer nicht entschlossen, dem Herbst Platz zu machen.
»Aber du fliegst doch nicht weg, Ruben? Nicht ohne mich?«
Ilka sieht ihren Bruder ängstlich an. Er ist so stark. Und so klug. Er kann alles. Nicht nur malen. Und rechnen und schreiben. Auch fliegen. Eigentlich hätte sie es sich denken können.
Und wenn er sie allein lässt? Wenn er ihr keine Geschichten mehr erzählt, keine Geheimnisse anvertraut und sie nicht mehr lieb hat? Sie mag gar nicht daran denken.
Manchmal guckt er ganz traurig. Und wenn er merkt, dass sie es gesehen hat, zaubert er schnell ein Lächeln auf sein Gesicht. Abrakadabra. Aber etwas an seinem Lächeln ist dann falsch. Es ist nicht sein richtiges Lächeln.
Ob auch die Tauben falsch sind, die ein Zauberer aus dem Zylinder holt? Ob es vielleicht bloß Hühner sind, die aussehen wie weiße Tauben? Ilka ist mal mit Mama, Papa und Ruben im Zirkus gewesen, da hat ein Zauberer seine Kunststücke vorgeführt. Mucksmäuschenstill ist es im Zelt gewesen. Und dann haben die Leute geklatscht. Auch Ilka hat geklatscht. So lange, bis die Hände ihr wehgetan haben.
Jetzt guckt Ruben wieder so traurig. Obwohl er eben noch froh gewesen ist. Diesmal lächelt er nicht. Vielleicht hat er schon unsichtbar die Flügel ausgebreitet.
»Ruben?«
Ilka flüstert seinen Namen bloß. Sie traut sich nicht, ihn laut auszusprechen. Ruben antwortet nicht. Er sitzt da und starrt zum Fenster. Aber er sieht nichts. Er guckt durch alles hindurch.
Langsam steht sie auf und geht leise zur Tür. Ruben bemerkt es nicht. Sie steigt die Treppe hinunter und verlässt das Haus. Der Garten ist voller Geheimnisse. Er kann sie immer
Weitere Kostenlose Bücher