Der Maedchenmaler
zu kauen. »Wie meinstn das?«
»Denk mal drüber nach.«
Er drehte sich um und ließ sie stehen. Das hier hatte nichts mehr mit ihm zu tun. Er würde die Schule erst wieder betreten, wenn er wusste, was mit Ilka geschehen war.
Kapitel 14
Imke bemühte sich um Fassung. Sie konnte es nicht glauben. Entsetzt starrte sie das Telefon an. Jettes Stimme war noch in ihrem Ohr, sehr kindlich auf einmal und so nah. Imke wäre am liebsten sofort hingefahren, doch sie hielt sich zurück.
»Lass sie los«, hatte Tilo gesagt. »Sonst verlierst du sie.«
Er hatte ja Recht. Aber wie brachte man das Gefühl dazu, dem Verstand zu folgen?
Ilka ist verschwunden
. Ein einziger Satz hatte ihre Befürchtungen wahr werden lassen. Der Albtraum wiederholte sich und ihre Tochter steckte mittendrin.
Sicher: Es musste nichts zu bedeuten haben. Junge Mädchen taten die verrücktesten Dinge. Vielleicht war Ilka nach Paris getrampt oder nach Amsterdam. Vielleicht hatte sie einen Billigflug nach Barcelona ergattert. Oder sie war mit einem Rucksack losgezogen, um zu sehen, wie weit die Füße sie tragen würden. Junge Mädchen vergaßen, zu Hause anzurufen. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, dass man sich um sie sorgen könnte. Das war nicht ungewöhnlich. Das erlebte man doch alle Tage.
Imke wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie hatte die seltsame Angewohnheit, alles immer zuerst mit ihr zu besprechen. Im Gegensatz zu Jette wurde sie selbst wohl nie erwachsen.
»Du liebe Güte«, sagte ihre Mutter. »Und wie gehts den Mädchen?«
»Sie schwanken zwischen Hoffen und Bangen.«
»Und du?«
»Bei mir überwiegt das Bangen.«
»Kann ich dir irgendwie helfen, mein Kind?«
Mein Kind
. Wann hatte ihre Mutter sie das letzte Mal so genannt?
»Hast du nicht Lust vorbeizukommen?«
»Würde ich gern, aber ich hab gleich meinen Malkurs. Tut mir Leid.«
Imke hatte für einen Moment vergessen, wie voll der Terminkalender ihrer Mutter war. Die Energie dieser Frau war unerschöpflich. Sie nahm Unterricht in Russisch (bei ihrer Putzhilfe, einer jungen russischen Lehrerin), besuchte seit Jahren Kurse für Standardtänze und hatte noch mit siebzig angefangen, Yoga zu lernen. Inzwischen war sie fünfundsiebzig, hatte ihre Leidenschaft für die Malerei entdeckt und bei einer Ausstellung der Kunstschule tatsächlich zwei Bilder verkauft.
»Schon in Ordnung, Mutter. Kein Problem.«
Loslassen, dachte Imke. Nicht nur meine Tochter, sondern auch meine Mutter. Sie setzte sich wieder an den Computer. Arbeit war das beste Heilmittel. Sie half gegen Liebeskummer, Trauer und Angst.
Aufmerksam las sie noch einmal die Seite, die sie vor Jettes Anruf geschrieben hatte. Dann tippte sie zögernd den nächsten Satz. Es dauerte keine zehn Minuten, da war sie wieder in ihren Roman eingetaucht. Ihre Finger tanzten nur so auf den Tasten. Für den Augenblick vergaß sie ihre Umgebung und ihre Sorgen. Für den Augenblick zählte nur das, was vor ihr auf dem Bildschirm erschien.
»Warum du hier bist?« Ruben sah sie verwundert an. »Weil du zu mir gehörst.« Er zeigte lächelnd auf die Tasse in ihrer Hand. »Erinnerst du dich an das Muster?«
Ilka betrachtete die Tasse. »Es ist fast so wie... das damals bei uns zu Hause«, sagte sie. Erst in diesem Moment wurde ihr die Bedeutung ihrer Lage richtig bewusst. Abrupt setzte sie die Tasse ab.
»Alles ist wie damals«, sagte Ruben. »Alles. Du wirst wieder glücklich sein, das verspreche ich dir.«
Ilka stand auf und zog sich langsam von ihm zurück. Sie sank auf die Bettkante und sehnte sich nach dem Tageslicht. »Aber ich
bin
glücklich«, sagte sie leise.
»Hast du deswegen eine Therapie gemacht?« Seine Stimme hatte scharf geklungen. Als wollte er Ilka signalisieren, dass sie eine Grenze erreicht hatte, die sie nicht überschreiten durfte.
»Wie lange willst du mich hier festhalten?«, fragte sie, obwohl etwas in ihr die Antwort schon kannte. Ihre Hände waren kalt und zitterten. Sie schob sie unter die Knie. Ruben sollte keine Schwäche an ihr bemerken.
»Ich will dich nicht festhalten«, sagte er sanft. »Ich wünsche mir, dass du freiwillig bleibst.«
»Wie lange, Ruben?«
»Was für seltsame Fragen.« Wieder sah er sie erstaunt an. »Für immer. Du sollst für immer bei mir bleiben.«
Das Zittern ihrer Hände ergriff Ilkas ganzen Körper. Sie spannte sämtliche Muskeln an, um es zu unterdrücken. Die unbestimmte Angst der vergangenen Monate hatte sie eingeholt. Hatte sie
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