Der Maedchenmaler
dass die Diele nicht aufgeräumt war. Es herrschte ein lebendiges, freundliches Chaos, und man musste aufpassen, dass man nicht über die Sporttasche, den Basketball, die Tennisschläger oder den Getränkekasten stolperte.
»Und?«, fragte Mike hoffnungsvoll.
Sie berührte seine Hand und schüttelte traurig den Kopf. Mike sackte in sich zusammen.
»Entschuldigung.« Er legte mir den Arm um die Schultern. »Das ist Jette. Wir wohnen zusammen.« Anscheinend merkte er selbst, wie seltsam sich das anhörte. »In einer Wohngemeinschaft«, erklärte er.
Ilkas Tante lächelte. Es war, als habe sie sich das Lächeln ihrer Nichte nur mal kurz ausgeborgt. Der einzige Unterschied war, dass das Gesicht, zu dem es gehörte, älter war. Sie schüttelte mir die Hand. Dann führte sie uns in die Küche.
»Solltet ihr nicht in der Schule sein?«, fragte sie.
»Schule?« Mike ließ sich auf einen der Sessel fallen. Er ächzte wie ein alter Mann. »Wir würden da sowieso nichts mitkriegen.«
Sie bot uns etwas zu trinken an, doch wir hatten beide keinen Durst. Ich sah mich um. Von einem der Fotos, die an der Wand hingen, lächelte Ilka auf uns herunter. Es war ein Schnappschuss. Ilka am Meer. Sie trug eine schwarze Pudelmütze, die sie sich tief in die Stirn gezogen hatte, und einen schwarzen Schal. Einige Haarsträhnen waren unter der Mütze hervorgekrochen und ringelten sich auf ihren Schultern. Ihre Nase war rot. Offenbar war das Foto an einem sehr kalten Wintertag entstanden.
»Was hat die Polizei denn bis jetzt unternommen?«, fragte Mike.
»Ein Kommissar war bei mir und hat Fragen gestellt. Melzig heißt er. Ich habe ihm Ilkas Zimmer gezeigt. Er hat sich alles angeguckt und Notizen gemacht.« Sie rieb sich über die Augen. »Es war wie in einem Krimi. Und plötzlich«, ihre Stimme wurde ganz dünn, »plötzlich wurde mir klar, dass dieser Krimi Wirklichkeit ist und dass Ilka darin die Hauptrolle spielt.« Sie schluchzte, trocken und hart, als hätte sie sämtliche Tränen längst geweint.
Mike tätschelte ihr ungeschickt den Rücken. Aber es schien sie zu trösten, denn sie hatte sich bald wieder im Griff.
»Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«, fragte Mike.
Sie überlegte. »Über meine Schwester, über Ilkas Interesse an Psychologie, über ihren Bruder ¦«
»Ihren Bruder?«, unterbrach Mike sie fassungslos. »Ilka hat einen Bruder?«
»Hat sie dir nie von ihm erzählt?« Überrascht sah Ilkas Tante ihn an.
»Kein Sterbenswort.« Mike wandte den Blick ab. »Sie hat aus ihrer Vergangenheit ein großes Geheimnis gemacht. Und ich Idiot hab das zugelassen. Ich hätte sie zwingen müssen, mit mir zu reden, dann wär das alles vielleicht nicht passiert.« Er war wütend und verzweifelt und schüttelte meine Hand ab, als ich seinen Arm berühren wollte.
»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte ich leise.
Wenn ich mich hier so umschaute, konnte ich mir nicht denken, dass Ilka entführt worden sein sollte. Entführer waren auf Geld aus. Diese Familie besaß nicht viel mehr als das Haus, in dem sie lebte. Man sah es am Zustand der Möbel und daran, dass eine ganze Menge Renovierungsarbeiten notwendig waren.
»Ilka ist mit all dem Schrecklichen, das sie erlebt hat, nicht fertig geworden«, sagte Ilkas Tante zu Mike. »Das erklärt ihre Schweigsamkeit vielleicht ein wenig.«
»Ihr Bruder.« Mike riss sich zusammen. »Warum wohnt er nicht hier?«
»Er war bereits volljährig, als meine Schwester und mein Schwager verunglückten. Und er bestand darauf, für sich allein zu sorgen. Ich weiß nicht mal, wo er heute lebt. Er ist Maler. Ab und zu habe ich etwas über ihn in der Zeitung gelesen, doch das war der einzige Kontakt, den wir zu ihm hatten.«
»Und Ilka?«
»Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Sie lehnte es sogar ab, über ihn zu sprechen. Sie hat ihn vollständig aus ihrem Leben ausradiert.«
»Er ist Maler?« Es fiel Mike schwer, die Informationen zu verarbeiten.
»Ruben war schon als Kind sehr begabt. Aber auch wahnsinnig schwierig. Als sein Vater bei dem Verkehrsunfall starb und seine Mutter in ein Heim eingewiesen wurde ¦«
»Ilkas Mutter lebt in einem Heim?«
»Das hast du auch nicht gewusst?«
Mike sah aus, als wäre ihm eben ein Geist begegnet. Ich hätte ihn am liebsten in die Arme genommen, aber er saß kerzengerade da, weit weg, und schien sich auf den nächsten Schlag vorzubereiten.
»Ich weiß nur, dass sie noch lebt. Ilka hat mir nicht ¦ Was für ein
Weitere Kostenlose Bücher