Der Mann am Strand
Wallander konnte jedoch einen Fuß dazwischenschieben und drückte die Tür auf.
"Was gibt Ihnen das Recht, hier einzudringen?" rief der alte Mann mit gellender Stimme.
"Ich dringe nicht ein", sagte Wallander. "Ich habe einen Hausdurchsu-chungsbefehl. Es ist das beste, Sie akzeptieren es sofort. Können wir uns irgendwo setzen?"
Stenholm schien plötzlich zu resignieren. Wallander folgte ihm in ein Zimmer, dessen Wände voller Bücher waren. Wallander setzte sich in einen Ledersessel, der alte Mann ihm direkt gegenüber.
"Haben Sie mir wirklich nichts zu sagen?" fragte Wallander.
"Ich habe keinen Mann hier am Strand spazierengehen sehen. Und meine Frau, die schwerkrank ist, auch nicht. Sie liegt oben."
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Wallander beschloß, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Es gab keinen Grund mehr zu zweifeln.
"Ihre Frau ist Staatsanwältin gewesen", begann er. "Im Jahr 1980
hatte sie lange Zeit eine Vertretung in Stockholm. Sie leitete unter an-derem die Voruntersuchung der Umstände, die zum Tod des damals achtzehnjährigen Bengt Alexandersson geführt haben. Und sie war es auch, die nach einigen Monaten das Verfahren einstellte. Erinnern Sie sich an dieses Ereignis?"
"Natürlich nicht", sagte Stenholm. "Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, zu Hause Gespräche über unsere Arbeit zu vermeiden.
Weder sprach sie von Angeklagten noch ich von Patienten."
"Der Mann, der hier am Strand spazierenging, war der Vater des toten Bengt Alexandersson", fuhr Wallander fort. "Er wurde vergiftet und starb auf der Rückbank eines Taxis. Finden Sie, daß dies nach Zufall aussieht?"
Stenholm antwortete nicht.
Wallander meinte plötzlich, den gesamten Verlauf des Geschehens vor sich zu sehen. "Nach Ihrer Pensionierung ziehen Sie von Nynäshamn hier herunter nach Schonen", sagte er langsam. "In eine kleine, anonyme Gemeinde mit Namen Svarte. Sie stehen nicht einmal im Telefonbuch, denn Ihre Nummer ist geheim. Natürlich kann der Grund dafür sein, daß Sie im Alter ungestört und ganz für sich sein wollen.
Aber vielleicht kann man sich auch eine andere Möglichkeit denken.
Daß Sie in aller Heimlichkeit wegziehen, um etwas oder jemanden loszuwerden. Vielleicht einen Mann, der nicht versteht, warum eine Staatsanwältin nicht mehr Mühe darauf verwendet, den sinnlosen Mord an seinem einzigen Kind aufzuklären. Sie ziehen fort, doch er findet Sie. Wie ihm das gelungen ist, werden wir wohl nie erfahren.
Plötzlich steht er hier draußen am Strand. Sie begegnen ihm eines Tages, als Sie mit dem Hund gehen. Es ist natürlich ein schwerer Schock. Er wiederholt seine Anklagen. Vielleicht stößt er sogar Dro-37
hungen aus. Im Obergeschoß liegt Ihre schwerkranke Frau. Ich be-zweifle nicht, daß es so ist. Der Mann am Strand kommt Tag für Tag wieder. Er läßt nicht locker. Sie sehen keine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Sie sehen überhaupt keinen Ausweg. Da bitten Sie ihn ins Haus. Wahrscheinlich versprechen Sie ihm, daß er mit Ihrer Frau sprechen kann. Sie geben ihm ein Gift, vielleicht in einer Tasse Kaffee. Dann bitten Sie ihn plötzlich, am nächsten Tag wiederzukommen.
Ihre Frau hat starke Schmerzen, oder vielleicht schläft sie. Aber Sie wissen, er wird nie wiederkommen. Das Problem ist gelöst. Göran Alexandersson wird an etwas sterben, was aussieht wie ein Herzinfarkt. Niemand hat Sie zusammen gesehen, niemand kennt die Verbindung zwischen Ihnen. War es nicht so?"
Stenholm saß unbeweglich da.
Wallander wartete. Durchs Fenster sah er, daß der Nebel noch immer sehr dicht war. Dann hob der Mann den Kopf.
"Meine Frau hat keine Fehler gemacht", sagte er. "Aber die Zeiten än-derten sich, die Verbrechen nahmen zu und wurden schlimmer. Polizei und Staatsanwaltschaft und Gerichte waren überfordert und kämpften einen aussichtslosen Kampf. Das sollten Sie als Polizeibe-amter wissen. Deshalb war es zutiefst ungerecht, daß Göran Alexandersson meiner Frau zum Vorwurf machte, daß der Mord an seinem Sohn nie aufgeklärt wurde. Er hat uns sieben Jahre lang verfolgt und bedroht und terrorisiert. Und er tat das auf eine Art und Weise, daß ihm nie beizukommen war."
Stenholm verstummte. Dann stand er auf. "Gehen wir hinauf zu meiner Frau. Sie kann es selbst erzählen."
"Das ist nicht mehr nötig", sagte Wallander.
"Für mich ist es nötig", sagte der Mann.
Sie stiegen die Treppe ins Obergeschoß hinauf. In einem großen und hellen Raum lag Kajsa Stenholm in einem Krankenbett. Auf dem Boden daneben lag der Labrador.
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"Sie
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